Am Meer, so heißt die Komposition für Orchester und Knopfakkordeon. Olga Rajeva hat sie im Jahr 2023 im Auftrag von Deutschlandfunk Kultur für das Ultraschall Berlin Festival geschrieben. Der Titel ist eine Ortsangabe, die sehr offen ist, und wir alle haben unbewusst irgendwelche Vorstellungen dabei, Vorstellungen aus der Erinnerung, von Bildern, von Filmen, von Träumereien.
Die Komponistin Olga Rajeva stammt aus Moskau und hat in ihrer frühen Kindheit ihre Großeltern in den Ferien in Mariupol besucht. Es war ein Paradies für sie als Vierjährige, erzählt sie. Das Meer war und ist ihre erste künstlerische Inspiration und ihr Sehnsuchtsort, sodass sie in ihren Kompositionen immer wieder an den Ort ihrer Erinnerungdorthin zurückkehrt und sich mit dem Thema Meer in einer ganzen Reihe von Werken befasst. Diese Informationen können unsere Wahrnehmung von dem Werk bei Ultraschall verändern, da die Zerstörung der Stadt durch die russischen Angreifer zum Zeitpunkt der Entstehung der Komposition schon in der Vergangenheit lag. Doch es geht ihr nicht um Zerstörung oder Krieg, sagt die Komponistin.
Nach der Generalprobe mit dem Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin unter der Leitung von Vladimir Jurowski im Haus des Rundfunks können wir im Gespräch Missverständnisse aus dem Weg räumen. Ich erzähle der Komponistin von meinem Erlebnis ihr Stück zu hören:
„Ich kann ja mal erzählen, was bei mir so passiert ist. Weil man die Geschichte der Stadt kennt und man gelesen hat, dass das Stück von Mariupol inspiriert ist, hatte ich jetzt gerade beim Hören etwas wie einen Spaziergang an einem Ort, den es nicht mehr gibt.“
Ausdrücklich möchte Rajeva mit ihrem Stück keine politische Aussage treffen. „Wissen Sie, im Politischen wird schnell reagiert, Journalisten reagieren schnell, aber bei Komponisten oder Malern dauert es eine lange Zeit. Zum Beispiel hat Penderecki Hiroshima 10 Jahre nach dem Hiroshima-Fall geschrieben. Oder es gibt manchmal Vorahnungen. Ich glaube, das harte Kriegsstück habe ich vor dem Krieg geschrieben (mit Fünf Bagatellen für Flöte, Klarinette, Cello, Violine und Klavier) – und danach habe ich verstanden, dass ich eine Vorahnung hatte, damals.“
Das sehr motivhaft bis geräuschhaft spielende Orchester in Am Meer nimmt als Soloinstrument das Knopfakkordeon in seine Mitte. Das auch Bajan genannte Instrument wird gespielt von dem ukrainischen Musiker Roman Yusipey. Die Tonalität des Stückes ist geprägt von hohen, klaren Tönen und sehr geräuschhaftem diversem Schlagwerk. Zu Beginn des Stückes werden als Begleitung lang gehaltener Klänge des Knopfakkordeons mehrere Geräusche gespielt, von einem Flexaton, das je einen herabfallenden Wassertropfen auf einer Oberfläche in einem Vergrößerungsglas zu zeigen scheinent. Die Verteilung dieser kleinen Perkussionsinstrumente auf die Breite der Bühne kreiert dabei eine Dreidimensionalität. An anderer Stelle wird ein Becken mit einem Bogen angestrichen und leitet einen gleißenden Ton ein, der weitergetragen wird vom gesamten Klangkörper des Orchesters. Es folgt ein Aufreißen einer glatten, geschönten Oberfläche in die Tiefe.
„Ich habe mit einigen Schlagzeugern meine Ideen ausprobiert, z.B. diese Glissandi, auch Marimba und Vibraphon mit verschiedener Artikulation, mit Fingern, mit Nägeln, mit harten Schlägeln usw. Flageoletts benutze ich immer wieder bei allen meinen Arbeiten, nicht nur über das Meer. Ich mag sie einfach. Das ist meine Klangwelt. Obertöne und etwas wie eine Andeutung eines Tons, das mag ich lieber als den direkten Klang.“
Das Hochtönende formiert sich vor dem inneren Auge zu einer lichtgetränkten Luft und materialisiert sich dann als glatte Wasseroberfläche. In diese Klangwelt setzt sich das Akkordeon hinein, mit mal klaren und mal metallisch mehrstimmigen Tönen und dem Klappern und Atmen, das auch auf ihm erzeugt werden kann. Das Stück ist eine Erzählung aus kleinteiligen Motiven und obwohl es eine so große assoziative Offenheit gibt, werden wir getragen und befinden uns an einem zusammenhängenden Ort in der Musik. Bei dem ganzen Geräuschhaften der Komposition, dem Motivhaften, erklingt plötzlich eine kurze Spielart des Akkordeons, die mich an argentinischen Tango erinnert. Das ist auch Erinnerungsmaterial, es erscheint mir als ein Signal von einem anderen Hafen oder aus der Geschichte des Instruments.
„Das Knopfakkordeon ist für mich ein Schiff und auch ein Meerestier, wie ein Tintenfisch vielleicht und ich habe viele Assoziationen bei diesem Instrument. Shantis oder Seemannslieder etwa. Roman und ich arbeiten seit ein paar Jahren zusammen. Ich habe für ihn schon andere Solostücke geschrieben, The Light of the Day of the Holy Trinity und das Heldengedicht, das eigentlich als Zugabe zu Am Meer gedacht war.“
Die genaue Intonation und Zusammensetzung des Klangs aus verschiedenen Klängen, man kann auch sagen, die „Klangfarben“, sind sehr spezifisch komponiert und gespielt, so wie Olga Rajevas Vorstellung von ihrem Sehnsuchtsort. „Diese Luft riecht nach Meer. Das Meer in Mariupol ist bisschen grün, wie auf Gemälden von dem berühmten russischen Maler griechischer Herkunft – er heißt Archip Iwanowitsch Kuindschi. In Mariupol lebten viele taurische Griechen, und das Meer auf seinen Bildern ist immer grün.“
Die Erinnerung und die Sehnsucht mögen einen Ausgangspunkt für das Komponieren darstellen. Sie sind zugleich auf einen fernen Ort und einen inneren, also sehr nahen Ort bezogen. Aber letztendlich geht es nicht um die Erinnerungen. Die Musik ist als etwas Größeres gedacht und macht sich selbst zu etwas Größerem.
So beschreibt es Olga Rajeva: „Geräusche gibt es beim Meer immer, das flüstert etwas, psssswssswss, erzählt. Und man hört irgendwelche Signale. Ich meine, nicht direkt, aber auch eine Inspiration oder Mitteilung, etwas ruft, sagt etwas, man erinnert was. Denn alles kommt aus dem Meer. Auch das Urleben vor vielen Jahrhunderten, vielen Jahrtausenden. Das Wasser enthält unser Programm, alle Informationen.“
Gegen Ende der Komposition rückt Papier klanglich und visuell in den Vordergrund. Die Schlagzeuger, hinten über das Orchester hinausragend, halten dünnes Backpapier in die Höhe und bewegen und biegen es auf eine festgelegte Weise. Es kann vieles assoziiert werden. Eine zerknüllte Zeitung, eine Brötchentüte, Pommes, Eis, wir sind frei. unsere eigenen Erinnerungen mit dem Klang in Verbindung zu bringen, oder auch nicht. Doch es passiert auch, dass sich Bilder ungewollt aufdrängen. An solchen Stellen schließe ich auch als Hörerin manchmal meine Augen, um zu schauen, wie sehr mich die Information über verwendetes Material oder mein szenisches Interesse von dem tatsächlichen Klang ablenken. Es ist der Versuch, meine Wahrnehmung auf andere Weisen auszutesten, oder mich von Bildern zu lösen, die mich einengen. Es ist ein aktiver Prozess, Neue Musik hören zu lernen.
Ob sich keine einzige Melodie in ihrem Stück befindet, frage ich Olga Rajeva noch abschließend etwas naiv, um es mit ihren Worten zu hören. „Hier geht es nicht um Melodie, sondern um Motive. Motive sind kurze, konzentrierte Ideen. Für Melodien gibt es andere Werke.“