Es gibt Konzerte, da fällt das Äußerliche nicht sonderlich für die Rezeption ins Gewicht. Manchmal aber wird die die optische Information zu einem wichtigen Bestandteil der musikalischen Wahrnehmung. Es liegt nahe, dass Körperlichkeit und Raum dann auch für die Betrachtenden wichtig werden, wenn Gedanken und Arbeit in die Präsentation investiert wurden. Die Reduktion, die auf der Bühne ganz natürlicherweise geschieht, indem sich darauf Instrumente und Musiker*innen abgelöst von allem anderen exponieren, lässt Details ins Auge springen, die gewollten und die ungewollten, und sie lässt auch die Körperlichkeit und vorgeführten Identitäten selbst sprechen. Eine besondere Hingabe an die Musik, die sich in einem Selbstvergessen des Körpers beim Spielen zeigt, während sich der Körper in den Dienst der Musik stellt, wird sichtbar. Die Beschreibung von Äußerlichkeiten ist daher keine Degradierung der Musik, sondern eine Wertschätzung des besonderen Geschehnisses im Konzert, dass bei der Aufführung die menschliche Unvollkommenheit und zuweilen das Universelle transzendierend zusammenkommen. Wenn mit einer Extravaganz der Bekleidung die Besonderheit des Anlasses gewürdigt wird oder sich die Musiker*innen auf eine bestimmte Weise zeigen, dann ist es ebenfalls eine Erhebung des rein Klanglichen zu einer umfassenden Erfahrung mit etwas sehr Spezifischem, das hinzukommt. Es entstehen Projektionsflächen für das prismatische Potenzial der Musik. Bei der Beschreibung des Bühnenraums und der Wirkung, die die Beleuchtung erzeugt, wird auch die Arbeit der technischen Mitwirkenden des austragenden Konzertorts gewürdigt.
Bei dem Portraitkonzert zu Jean Barraqué ist die wechselseitige Wirkung deutlich spürbar. Das in der Musik angelegte Spannungsverhältnis zwischen impressionistischer und atonaler Tonsprache harmoniert mit der ruhigen und leicht unter Spannung stehenden Eleganz auf der Bühne sehr gut.
Mit einem Gefühl des heimlichen Öffnens einer Schatztruhe, deren Inhalt lange im Dunkeln versteckt war, werden auf dem Konzert im Rahmen des Ultraschall Berlin Festivals 2024 einige Stücke aus dem Frühwerk von Jean Barraqué präsentiert. Es werden einige Lieder in der klassischen Konstellation von Klavier mit Gesangsstimme aufgeführt, die sich im gemeinsamen Spiel feinfühlig aufeinander beziehen, außerdem gibt es reine Klavierstücke und abschließend das verspielteste Werk, in dem die Besetzung um Schlagwerk und Trompete ausgeweitet ist.
Jean Barraqué (1928-1973) selbst autorisierte nur ein kleinstes Oeuvre zu Lebzeiten. Im Jahr 2009 sind Stücke aus seinem Frühwerk von 1948-1950, die er selbst als Versuche und Einkreisungen bezeichnete, in einem Reisekoffer auf dem Dachboden der Associación de Barraqué gefunden worden. Für Jean Barraqué, vormals tief religiös, dann zum Atheismus „konvertiert“, stellte das Erschaffen von Musik, die an die Grenzen geht, die beste Beantwortung der Existenzfrage dar. In der musikalischen Form des SerialismusDas Zweifeln an einer Sinnhaftigkeit führte auch zu der intensiven Thematisierung des Todes in seiner Musik.
In einer stilistischen Einheit mit dieser existenzialistischen Wahrnehmung der Welt ist eine Farbe auf der Bühne vorherrschend, die die Personen und Instrumente wie aus dem Nichts hervorbringt und von sich abhebt: schwarz. Der Flügel verflüssigt sich in schwarzem Glanz und verbindet sich mit dem schwarzen Vorhang der die Grenze der hier kreierten Welt nach hinten hin gestaltet. Pauken schimmern kupfern und mischen ihren warmen Glanz den spiegelnden Schwärzen unter. Die Hände in kraftvoller Pose am Pult aufliegend, wogt der Oberkörper der Mezzosopranistin Nina Tarandek beim Singen des ersten Stücks Te Adoro, zu allen Seiten.
Michael Wendeberg, der Pianist, trägt schwarze Lackschuhe, als wäre der Flügel auf sie übergeschwappt. Sein Anzug hat ein florales Muster aus mattem und glänzendem Schwarz. Die Sängerin trägt ihre Lippen hellrot, die dunklen Haare nach hinten gesteckt und hochtoupiert und das eng anliegende türkise und halbtransparente Kleid ist in der Taille schräg gerafft. Die helle Haut trägt ein paar Muttermale und die Augen, die den Gesang begleiten und eine Öffnung aus dem Versteck der Musik hin zum Schwarz des Universums gestalten, sind mit einem Lidstrich versehen. Er verleiht ihr einen Ausdruck von Waghalsigkeit.
Für das nächste Stück nimmt die Sopranistin Katrien Baerts den Platz hinter dem Gesangspult ein. Sie trägt einen schwarzen, einteiligen Hosenanzug mit einem V-Ausschnitt, der die strahlende Haut umrahmt und zur Projektionsfläche eines ätherischen Duftes werden lässt, den die Musik mit sich trägt.
Sie heftet ihren Blick in die Höhe, scheinbar in einer fernen Galaxie treibend, die Augen zusammengekniffen, doch funkelt darin eine silberne Glut, während die hellen Strasssteine an ihren Ohren Lichtblitze aussenden.
Nebeneinanderliegende Tasten, sanft auf- und absteigend in einer traumwandlerischen Ruhe angeschlagen, leiten die Mélodies de jeunesse ein, eine Abfolge von mehreren verschiedenen Liedern oder „Mélodies”, die Katrien Baerts und Michael Wendeberg in sensiblem Zusammenspiel interpretieren.
Die Artikulation und der Erzählwille des Gesangs ist innerhalb einer erkennbaren Rhythmusstruktur zuhause, doch die Harmonik scheint aus einer anderen Welt zu stammen. Die Sopranistin wechselt zwischen Tonhöhen, die wie sichere Tritte auf einer bekannten Skala Struktur geben, und abweichenden Zwischenorten.
Die Finger des Pianisten spielen kurze, streichelnde Melodien, die ins Ungewisse zielen, und doch im Warmen bleiben – ruhig sind, aber beunruhigend. Ganz sanft angeschlagene Dissonanzen und zerlegte Akkorde erzeugen den schimmernden Klang, der das Unbekannte vergoldet. Im Laufe der Melodiés de jeunesse ist das Klavierspiel konstant, aber veränderlich. Die Bewegung des langsamen Auf- und Absteigens, das wir zu Anfang gehört haben, wird wieder aufgegriffen, doch weiterentwickelt – in zerlegten Akkorden wird eine stärkere Erregung und Aufgewühltheit erzeugt. Darüber legt sich der Gesang in einem schwankenden und tänzelnden 3/4 Takt. Diese Melodie, die sich windet und dreht und in der eine an Verzweiflung grenzende Ungewissheit zum Ausdruck zu kommen scheint, wird aus Initiative des Klaviers zu einem klaren Abschluss gebracht. Sich an einer einfachen Melodie in vollen Akkorden festhaltend, scheint es sich an impressionistische Vorbilder anzulehnen. Diese höchst energisch gespielten Schlussakkorde sind beinahe übertrieben und so könnte man den Abschluss als Inszenierung und als bewusstes Manifestieren einer nicht tatsächlich vorhandenen Klarheit verstehen.
Dem Pianisten sitzt eine Umblätterin zur Seite, und sie beide schauen auf das weiße Papier. In dieser Konstellation – die beiden am Flügel in einer gedanklichen Einheit und die Sängerin ein wenig abseits stehend – sind diese Drei in Spannung und Erfüllung mit sich selbst beschäftigt und existieren auch nur in dem Moment, in dem sie genau das tun. Sie erinnern dabei an die ausdrucksstarken und entrückten auf Bühnen stehenden Figuren aus Filmen von David Lynch, die uns in einen traumwandlerischen Bann ziehen, in dem wir uns auflösen. Zwei Staubkörnchen umschwirren die Sängerin wie Planeten. Wendebergc gestaltet den Abschluss des Stücks, das Verklingen des letzten Tons, mit einem ungewöhnlichen unter dem eigentlichen Klavierklang der angeschlagenen Seite lauernden Geräusch, das er im Moment des Abhebens des Fingers von der Taste hervorkommen lässt, es ist ein metallischer Nachklang, wie ein elektrisiertes Knistern.
Die vorletzte Mélodie aus den Mélodies de jeunesse beginnt mit einem pulsierend gespielten tiefsten Klavierton, dessen Klang wir hier in seiner Autonomie eine Weile auf uns wirken lassen können. Sodann werden höchsttönende Klavierklänge gleich eines Sternenregens herabsteigend eingestreut, und der Gesang beginnt mit einer kurzen, ebenfalls gewundenen, aber tendenziell herabsteigenden Melodie in Moll hinzu. Ein ausdrucksvoll gesungener Ausruf lässt ein inneres Drängen herausbrechen und das Klavier nimmt den Gesang auf und beginnt ebenfalls sich aufgeregter zu verhalten. Gemeinsam bewegen sie sich hin zu opernhaften dramatischen Momenten mit extremem plötzlichem Anschwellen der Lautstärke und hin zum Wiederkehren des tiefen Pulstons, der gemeinsam mit einem klirrend hohen „Kontrahenten“ eine impressionistische Klangmalerei ergibt, die sich für einen Moment ausbreitet, bevor die hohen Töne sich aus der Bewegungslosigkeit herauslösen und den Gesang dazu anregen abschließende Worte zu finden, die beruhigt oder auch resigniert klingen.
Im vielleicht schönsten Stück dieses Konzerts, nämlich dem die Mélodies de jeunesse abschließenden Lied, singt die Sopranistin eine berührende, sich in Variationen immer wiederholende, wunderschöne Melodie auf einem langgezogenen „Aaah“, die sich an einem sichereren Ort als bisher befindet, der doch immer noch ein ambivalenter Ort ist, und dessen Gleichzeitigkeit von Schmerz und Friedlichkeit akzeptiert wurde. Das Klavier begleitet, greift die gesungene Melodie auf und führt sie in veränderlicher Weise fort – zunächst eine düsterere Interpretation der gesungenen Melodie anbietend, dann relativ schlicht unterstützend, dann in einem hellen Wirbel aus zerlegten Akkorden. Es endet friedlich. Wie schön!
In den Trois Mélodies gibt es abwechselnd ausdrucksstark gesprochene und gesungene Passagen, was Nina Tarandek meisterhaft macht, vor allem bemerkenswert ist ihre Ausführung, als Ausrufe und Gesang immer enger ineinandergreifen.Nachdem der Pianist die schöne Sängerin in einer Gentleman-Geste nach ihrem Applaus von der Bühne hinuntergewunken hat, und sich nun allein an den Flügel setzt, wirkt er doppelt angespannt. Zu Anfang der Transkription des Vorspiels zum III. Aufzug von Tristan und Isolde legt er die Noten auf die flach hinuntergekippte Notenablage und beugt sich über die Tasten.
Eine längliche Staubfaser hebt sich von seiner Schulter ab und steigt im Lichte des Scheinwerfers mit einem eleganten Schwung in die Höhe, genau in dem Moment, als der darunter sitzende Pianist mit größter Hingabe den ersten musikalischen Bogen ausgestaltet hat und die hohen Töne auf der Tastatur hinaufgeklommen ist. Staub und Klang heben sich langsam höher, schweben weit oben über ihm in der Luft.
Sehr bekannte Harmonien erklingen. Es ist die Tristan-Akkordfolge, die Wagner geschrieben hat, und Jean Barraqué hier aufgreift. Nach einem beklemmenden Akkord kommt die Erlösung nicht, sondert wandert in eine andere Beklemmung oder eine andere Form von Traurigkeit. Der Pianist hängt sich vollkommen in die Töne rein, gräbt sich hinein und produziert ein monströses Grummeln zu den kraftvoll gespielten Passagen.
La Nostalgie d’Arabella schließt das Konzert ab. Zusätzlich zu Gesang und Klavier werden hierfür die Pauken und das zusätzliche Schlagwerk aus Pauken, Kastagnetten und Zimbeln besetzt, und ein Trompeter flankiert die Sängerin. Das Konzentrierte der Zweierkonstellationen und des Solospiels löst sich auf in einem verrückten Spektakel.
Das Klavier prescht voraus und gibt eine Melodie vor, der die Pauken folgen.
Als der Gesang einsetzt, beginnt die Erzählung und die Instrumente kommentieren in kleinen Intermezzi. Sie machen Lärm, treiben an und erzeugen einen Klangraum, der einem sich verselbstständigenden Kinderschlagzeug zu entspringen scheint.
Die Stücke aus dem Frühwerk des sehr eigensinnigen Künstlers, die hier auf die Bühne gebracht wurden, geben dem Glauben Jean Barraqués abseits eines religiös verortbaren Gottes Ausdruck, und trotzdem wirkt die Musik nicht nur ernst. Es klingt so, als hätte Barraqué es geschafft, frei zu bleiben, vor allem in diesem sehr verspielten Stück La Nostalgie d’Arabella und allgemein durch sein lockeres Changieren zwischen Serialismus und Impressionismus. Vor allem die gesungene Melodie artikuliert in vielen Momenten etwas wie spontan Herausgekommenes. Das Klavier greift diese Ausdrucksweise und Impulsivität und die Schattierungen aller möglichen Nuancen der Stimmungsschwankungen auf.
So hat es Jean Barraqué komponiert, als Ausdruck eines menschlichen Ringens mit der Unvollkommenheit und eines Reagierens auf sie.