Die politische Wirkkraft von Festivals wie Ultraschall ist oft unterschätzt. In diesem Jahr spüre ich ein starkes Bedürfnis zu ergründen, wie der Konzertbesuch zu einem verbindenden Erlebnis für eine künstlerische Szene und auch politische Community werden kann – und wie daraus eine gestärkte Handlungsmacht resultiert.
Während der Konzertgespräche am zweiten Tag des Ultraschall Festivals mit dem Berliner Rundfunk-Orchester erschallt spontaner Beifall vom Publikum, als Reaktion auf den Kommentar des verdienten und bekannterweise politisch ausdrucksmutigen Chefdirigenten Vladimir Jurowski: „Wir leben in einer bestimmten Zeit. Es ist uns eine Zeit gegeben, und es wird keine andere geben. Das heißt, unser Leben verläuft im Hier und Jetzt und wir müssen das, was draußen auf den Straßen passiert, seien es Kriege, Angriffskriege, Bauernaufstände…“ (hier erklingt belustigtes Kichern aus dem Saal) „…oder einfach schlechtes Wetter – wir müssen es einfach in Kauf nehmen. Und das färbt schon auf unsere Tätigkeit als Musiker ab. Aber ich möchte doch das Recht der Musik verteidigen wollen, nur Musik zu sein. Der Mensch kommt nicht umhin, ein homo politicus zu sein, einfach weil wir in einer Gesellschaft leben. Und trotzdem, die Musik bleibt Musik und sie darf in solche Regionen vordringen, in die uns unsere sozialen, politischen und ethischen Umstände oft nicht hineinlassen.“
Laut Rainer Pöllmann ist das Credo des Festivals dieser Aussage ganz ähnlich – die Musik als gesellschaftliches Phänomen wahr und ernst zu nehmen und der Musik als Kunstform gleichzeitig ihren Entfaltungsraum zu lassen. Diese „Ja, und“-Auflösung der sonst so brisant und hart diskutierten Frage nach der politischen Verantwortung der akademischen Musik, scheint mit den Besucher:innen zu resonnieren. Viele von ihnen sind selbst im Kulturbereich tätig und normalerweise böte der Topos des „Elfenbeinturms“ erneuten Anlass zur Kritik, aber heute geht es um eine andere Perspektive.
Die Erfahrungen der letzten drei Jahre haben eine neue Krisenpräsenz mit sich gebracht. Pandemie, neue Kriege und ein Anstieg der Waffenproduktion, Demokratiefeindlichkeit, Klimakrise und Wetterkatastrophen, Rassismus, Inflation, Frustration über Regierungsentscheidungen und politische Polarisierung bilden eine kaum enden wollende Aufzählung. Früher dominierte die Idee, die Neue Musik müsse aus ihrer Bubble hinaus und sich in ihren Formaten endlich zugänglicher für Menschen „da draußen“ gestalten. Das ist nicht verschwunden, jedoch einem anderen Gefühl gewichen; der Erleichterung, dass wir noch das „hier drinnen“ haben. Der Konzertsaal wird zu einem Schutzraum gegen die Schwere und die oft erdrückende Hilflosigkeit unserer Zeit.
Einen Grund dafür benennt Jurowski mit dem Eigenraums des Klangs, der über die aktuelle soziale und politische Komplexität hinausgeht. Die Kunst und ästhetische Erfahrung in ihrem Selbstzweck können einen Raum erzeugen, in dem man nicht werten muss. Ein Klang ist nicht gut oder schlecht. Er kann gefallen oder nicht, oder überraschen oder langweilen und ist in der zeitgenössischen Musik oft eigenwillig komponiert. Zugrunde liegende Werte für die Vielfalt der Personalstile sind vielleicht Differenzerfahrung und -toleranz, die auch unser demokratisches System tragen: Du bist anders als ich und trotzdem sind wir gleichberechtigt. Vladimir Jurowski postuliert: „In der Neuen Musik geht alles“, und in diesem Zuge erfüllt sie möglicherweise eine wichtige Funktion zum Erhalt unserer Demokratie. Einfach neue Musik hören zu wollen wird hier auch politisch, durch die Wahrung der Kunst- und Meinungsfreiheit, aber auch des gemeinsamen Erlebens von Räumen, die sich einer politischen Polarisierung entziehen und gleichgesinnte, für Toleranz einstehende Menschen zusammenbringen.
Vielleicht ist das eine Antwort auf die Frage, wieso wir zeitgenössische Musik machen und hören. Die Gründe für einen Konzertbesuch sind natürlich mannigfaltig und auch wenn Flucht vor einer grauenhaft anmutenden Welt dazugehören mag, ist es kein Aufgeben, wie aus dem Kommentar von Farzia Fallah ersichtlich wird: „Von meinem allerersten Kompositionslehrer in Teheran konnte ich mitnehmen, dass die Verantwortung bei einzelnen Künstler*innen liegt und nicht am Kunstwerk. Die Verantwortung liegt bei jedem von uns, insbesondere von uns Schaffenden, so dass es eine Veränderung gibt über das Künstlerische hinaus.“
Viele Künstler*innen des Ultraschall Festivals thematisieren in Gesprächen den wachsenden Weltschmerz. Sie teilen auch verschiedene Strategien dagegen – eine Pause zu machen, in kathartische Kunsterfahrungen zu weinen oder sich auf die eigene Verantwortung und Handlungsfähigkeit zu besinnen. Ich hoffe, dass alle Mitwirkenden und Besucher*innen durch die Musik und inspirierenden Begegnungen beim Ultraschall Festival in ihren demokratischen Haltungen gestärkt werden. Denn wir brauchen Menschen, die mit Zuversicht und Vertrauen auch im politischen Geschehen laut werden.