Das Licht erlischt. Es ist stockdunkel bis auf einen Scheinwerferkegel, in dem Margit Kern mit ihrem Akkordeon sitzt. Ihre Haare leuchten im Bühnenlicht. Und dann erfüllt ein feiner, hoher Ton den Raum. Es klingt wie ein Fiepen, dieser höchste Ton des Akkordeons. Ein zweiter Ton kommt hinzu, langsam formt sich ein Zusammenhang, atonale Melodiefragmente, die sich entfalten, abbrechen, und dann erneut entstehen. Es ist ein intimer Moment, den die Akkordeonistin mit dem Zuschauer teilt. Je länger diese Melodiefragmente erklingen, desto mehr entspanne ich mich.

Meine Atmung verlangsamt sich. Und dann geht es weiter. In gleicher Weise. Und weiter. Und weiter. Dieser erste Teil der Komposition beruht auf Tonfolgen, die der schwedische Komponist Lars Edlund in den 1980er Jahren mit Hilfe eines Algorithmus generiert hat, erläutert Komponist Johannes Schöllhorn später im Interview.
Es ist schwer einen Grundton in ihnen auszumachen. Ich kenne den Klang bald. Meine Aufmerksamkeit wandert von der Musik in meine Gedanken. Dinge aus vergangen Zeiten oder Pläne, die ich gerne umsetzen würde, kommen mir in den Sinn. Die seltsamen Tonfolgen entfalten sich unaufhörlich von der Bühne in den Saal hinein. Wiederholen sich, sind aber doch jedes Mal etwas anders. Tondauern verändern sich, Fermaten sind immer an einer anderen Stelle.
Die Melodie klingt gleichförmig und ist dennoch unvorhersehbar. Atmend, in einem langsamen Tempo. Und mein Körper passt irgendwie nicht dazu. Entspannt er sich zunächst und beginnt zu träumen, fühlt sich mein Geist schnell an wie ein Gefängnis. Warum schaut man dieses Konzert im Sitzen? Ich würde mich gerne bewegen. Ich merke meinen Atem, die schwere Luft unter der Maske. Es bleibt dunkel. Meine Haut hinter dem Ohr juckt. Der Stuhl ist sehr hart an meinem hinteren linken Schulterblatt. Ich überkreuze meine Beine rechts über links. Zeit. Atmen. Tonklänge. Ich überkreuze meine Beine links über rechts. Atmen. Die gleichen Tonklänge in leichter Abwandlung. Zeit. Ich überkreuze meine Beine von links über rechts nach rechts über links und wieder zurück. Ich glaube, mein Puls ist zu schnell für diese Repetitionen. Er ist zu schnell für das immer gleiche, sich wiederholende, in diesem dunklen Raum, der mich seltsam schläfrig und gleichzeitig unruhig macht.
Zeit vergeht und das Klangmaterial bleibt immer noch gleich. Es wird etwas tiefer mit der Zeit. Atonale Melodiephrasen. Diese Musik hat einen derart langsamen Puls – Atonale Melodiephrasen – …einen derart langsamen Puls, dass man den Satz vergisst, den man gerade angefangen hat, weil die Gedanken wegdriften. Es gibt wenige Pausen in der Gleichförmigkeit. Lange zieht sich der erste Teil hin. Es ist mir fast unerträglich. Ich schweife ab. Im dunklen Raum. Stille. Ewigkeit. Ich spüre es kribbeln, ich spüre meinen eigenen Rhythmus und meine Ungeduld in meinem Körper kribbeln. Die Maske sitzt schlecht. Diese ganze Situation nervt.
Und dann beginnen elektronische Klänge sich in das Spiel des Akkordeons einzuflechten. Damian Marhulets tritt mit Elektronik auf die akustische Bühne. Die Klänge sind synthetisch erstellt, aber ihre Parameter sind nicht ganz durch die Komposition vorgeschrieben. Sie werden durch Marhulets interpretiert, damit ist die Elektronik eigenständiges Instrument. Der langsame Rhythmus mit Fermaten und auch das Tonmaterial des ersten Teils sind noch präsent. Plötzlich aber wandert der Klang durch den Raum, es knistert und knackt hinter mir. Durch Lautsprecher, die im Zuschauerraum verteilt sind, bereiten sich lange und vor allem kurze. trockene, helle Klänge aus, sind neben mir, über mir, in meinem Rücken. Sie lösen in mir Gänsehautähnliches aus, mein Körper wird plötzlich wieder wach. Es kitzelt mich, ich spüre es angenehm kribbeln. Der Raum bleibt weiterhin dunkel und der Ort ist noch der gleiche. Zeit vergeht schneller.
Irgendwann beginnt Katharina Bäuml, lange Klänge auf der Schalmei zu spielen, die Elektronik schleicht sich irgendwann aus dem Klang hinaus und wir stürzen wieder ab in die Gleichförmigkeit. Freitonale Melodiefragemente. Ich kenne das schon und ich ertrage es tapfer. Ich sitze und versuche mich zu entspannen, obwohl ich ja eigentlich schon entspannt bin. Meine Atmung ist die ganze Zeit sehr tief. Ich warte.
Und dann ist es endlich vorbei. Nach diesem Konzert fühle ich mich schwer, gelähmt. Dieses Konzert hat in mir nachhaltig ein anderes Körpergefühl ausgelöst, etwas ist verändert. Ich bin entspannt und konfrontiert mit meiner eigenen Ungemütlichkeit auf diesem Stuhl, unter dieser Maske, mit den Beinen, die ich nicht mehr auf andere Weise überkreuzen kann. In diesem Konzertraum musste ich mich dem hingeben, was dort stattfand. Das Radio hätte ich längst abgeschaltet.
Zeit in seiner Endlosigkeit ist das, was ich erlebt habe. Es ist ein Werk, das etwas mit mir macht, das mir unangenehm ist. Aber genau dieses Thema ist es, was auch den Komponisten beschäftigt hat. Dies wird anschließend im Künstlergespräch deutlich. Der Titel „Tra un fiore colto e l’altro donato“ bedeutet so viel wie „zwischen einer gepflückten und einer geschenkten Blume“ und stammt aus einem Gedicht von Giuseppe Ungaretti. Schöllhorn verweigert sich nach der Aufführung der eindeutigen Auslegung seines Werktitels mit der Bemerkung, bei Lyrik müsse man für sich den Bezug selbst herausfinden. Nichts leichter als das, denn das Gedicht besteht ja nur aus einem Satz: „Tra un fiore colto e l’altro donato l’inesprimibile nulla.“ „L’inesprimibile nulla“ ist „das unausdrückbare Nichts“. Das kommt meinem Gefühl erstaunlich nahe. Ist der Teil für Akkordeon metrisch und in Tonhöhen noch genau ausnotiert, kann die Länge der Fermaten im weiteren Verlauf von Margit Kern frei gestaltet werden. Anschließend gibt es noch mehr interpretatorische Freiheit und Margit Kern sagt, sie habe jeder dieser Tonblüten einen eigenen Klangfarbencharakter verliehen. Durch das Erblühen der freitonalen Blüten in endloser Wiederholung wurde in mir als Zuhörerin jedenfalls ein schwer zu beschreibender Zustand hervorgerufen. Als Begriff hierfür gibt es wenig, was besser passen würde als „unentrinnbare Endlosigkeit“ oder „Unausdrückbares Nichts“.