Damit meine ich das Gefühl, in der Musik geborgen zu sein. Ich möchte mithilfe meines Ohres in eine andere Welt hören und dort etwas erleben, was mir Spaß macht.
„Ich möchte von der Musik entzückt sein“, ist mein Impuls, während ich in der S-Bahn zum Abschlusskonzert des Ultraschallfestivals fahre. Gerade habe ich 48 Minuten lang das Werk „tra un fiore colto e l’alto donato“ von Johannes Schöllhorn erlebt. Freitonale melodische Strukturen, die von einem Algorithmus generiert wurden, entfalten sich darin auf Akkordeon und Schalmei. Gestern Nachmittag habe ich gleich fünf Werke unterschiedlicher Komponisten gehört, interpretiert von LUX:NM. Abends gab es fünf Kompositionen von Yiran Zhao, gespielt an 2 Metronomen, einer großen Trommel, einer Rahmentrommel und mit Ensemble. Und heute Abend werden nochmal vier Werke unterschiedlicher Komponisten im Abschlusskonzert erklingen. Das ist viel. Eine Menge Impulse in schneller Abfolge. Die Vielfalt auf dem Festival provoziert dazu, nichts verpassen zu wollen und sich von Konzert zu Konzert, nur durch kurze Umbaupause unterbrochen, in neue Klangwelten zu stürzen. Mein Ohr hört dort Klänge, die es noch nicht zuordnen kann. Mein Gehirn erlebt dort Musik, bei der es nicht weiß, worauf es achten soll.
Die kompositorischen Ideen beim Ultraschall-Festival inspirieren, elektrisieren, fordern. Und dennoch komme ich immer wieder an den Punkt, an dem meine Aufmerksamkeit kippt, oft in der zweiten Hälfte des Festivaltags. Eindruck folgt ungefiltert auf Eindruck und wenn mein Ohr irgendwann beginnt, müde zu werden, ist mir Neue Musik zu viel. Mein Ohr lässt sich dann auch nicht mehr durch Gespräche mit Künstler*innen an die Hand nehmen – es begibt sich stattdessen in einen Streik.
Ich bin an diesem Sonntagabend gesättigt von Klangexperimenten und Eindrücken. So inspirierend die Werke auch sind – wenn meine Sinne ausschließlich mit ungewöhnlichen Erfahrungen gefüttert werden, haben diese es bald schwer, sich voneinander abzuheben. Wenn man eine Wand mit lauter Bildern ausgefallener Muster tapeziert, verwebt sich dort irgendwann alles zu einem Gesamtgewimmel. Hält man dann noch ein weiteres Bild mit Muster vor die Wand, ist seine Einzigartigkeit fast nicht wahrnehmbar. So fällt es mir auch bei den Kompositionen bei Ultraschall zunehmend schwerer, sie gleich beim ersten Hören in ihrer Einmaligkeit wertzuschätzen. Sie alle scheinen ein anderes Referenzsystem zu haben, mit dem sie arbeiten.
Es ist vielleicht das, was der Komponist Dieter Ammann uns UltraschallReportern im Vorgespräch zum Festival mit Personalstil beschrieben hat, durch den die Kompositionen der Neuen Musik geprägt sind. In der Klassik oder Romantik war es üblich, mit bestimmten Tonarten und Begleitstrukturen und Charakteristika der Melodien zu komponieren. In der neuen Musik ist dies anders. Es wirkt, als hätte jeder Komponist, als hätte jedes Werk sein eigenes Bezugssystem, in dem es steht. Ich habe das Gefühl, mehr Zeit und mehr Material zu brauchen, um das nachvollziehen und ästhetisch ganz in die Welt des Komponisten eintauchen zu können. Ich würde gerne die Vorgeschichte und die musikalischen Inspirationen der Werke erleben können, so wie ich in Kunstausstellungen auch die Entwicklung und Inspiration des Malers zu dieser Malweise und seine philosophischen Gedanken hierzu durch Texte und kontrastierende Werke ästhetisch nachvollziehen kann.
In der Dunkelheit des Konzertraumes sitzend sahen meine Augen meist den hellen Scheinwerferkegel mit Instrument und Musiker*in und sonst nichts. Daher war auch meine Referenzwelt, die mir Orientierung gibt, ausgeblendet. Da wirkte Musik teilweise plötzlich seltsam abstrakt. Und im schwarzen Bühnenraum des Radialsystems verlor ich mich mitunter bei schwacher Beleuchtung in einsamer Ewigkeit.
Deswegen habe ich also jetzt in der Bahn das dringende Bedürfnis, nur noch Wohlklang zu hören. Ich möchte von der Musik entzückt sein und mich durch sie als Ganzes erleben. Mit diesem Wunsch ist es eine gute Entscheidung, in den großen Sendesaal des rbb zu gehen. Für das letzte Konzert des Festivals mit Orchester wird das lichtschluckende Schwarz des Radialsystems mit holzverkleideten Wänden ausgetauscht. Der dunkle Bühnenraum wechselt nun in einen großen, ausgeleuchteten Saal. Die Atmosphäre strahlt eine Feierlichkeit aus, die neugierig auf das macht, was hier erklingen wird. Rote, weiche Stoffbestuhlung lädt dazu ein, sich geborgen und gemütlich zu fühlen. Sie scheint den auf ihr Sitzenden zuzuflüstern „Musik hört man zusammen. Und man feiert das.“
„Burr“ von Arne Gieshoff eröffnet auch sogleich den Abend mit einem metallischen Klang, der sofort seine Klangfarbe und auch die Tonhöhe ändert. Der erste Ton scheint in den Tritonus zu fallen, verweilt aber auf der neuen Tonhöhe nur kurz. Schillernd und fast schon ruhelos präsentiert das Orchester im ersten Teil dieser fünfminütigen Komposition einen von Bläsern dominierten Klangfarbenreichtum in oberer mittlerer Lage. Schon kurz darauf wird dieser abgelöst durch ein Rauschen von den tiefen Lagen der Kontrabässe mit gelegentlichen Impulsen von Pauken und Tuba. Es klingt wie Knarzen eines riesigen Baumes oder unruhiges Atmen eines gefährlichen Tieres und lässt mich darüber staunen, welche Klangfarben mit einem ganzen Orchester erzeugt werden können. Gieshoffs Komposition und auch das sich anschließende „Oder Ekel kommt vor Essenz“ von Yiran Zhao schaffen es, mich zu fesseln und immer wieder zu überraschen, weil ihr Klang über den, den ich aus Sinfoniekonzerten gewohnt bin, hinaus geht, sich aber in Strukturen bewegt und mit Rhythmus arbeitet, der mir auch vertraut vorkommt. Ich erlebe auf diese Weise den Wohlklang, den ich gesucht habe.
Aber darf man Wohlklang wollen, oder ist das dann schon Kitsch? Etwas in der Musik erleben zu wollen, das Spaß macht, scheint überhaupt nicht mehr verwerflich, nachdem man das Interview mit Enno Poppe in der Umbaupause vor seinem Stück gehört hat und deutlich wird, was er in der Musik sucht. Er möchte sein Stück nicht durch „zu viele Erklärungen beschädigen“ und lädt das Publikum stattdessen dazu ein, sich in die Suchbewegung des Komponisten hineinversetzen. Nicht „Technik, sondern Neugier“ treibe ihn bei den Proben an. „Ich möchte tatsächlich etwas erleben, mit dem Orchester zusammen“. Poppes Komposition „Fett“ schafft dies durch das Ausloten von immer neuen Intonationsnuancen. Es baut sich in kreisenden Bewegungen um Klangzusammensetzungen mit fein ausdifferenzierten Tonhöhen in fünfundzwanzig Minuten langsam, aber stetig eine Spannung und Energie auf, an deren Höhepunkt plötzlich das Orchester verstummt. Wie mit einem Luftsprung wird das Publikum in den Abend entlassen, beglückt und noch taumelnd von dieser Erfahrung, die wirklich Spaß gemacht hat.