Als ich am Morgen des 15.1.2020 den Saal des Hauses des Rundfunks betrete, weiß ich einzig und allein, dass hier und jetzt neue Musik geprobt wird. Gespannt warte ich also auf den Beginn der Generalprobe für das heutige Konzert. Sie beginnt auch pünktlich um 10:00 Uhr mit dem Violinkonzert von Jörg Widmann, das noch am selben Abend aufgeführt werden soll. Im Laufe des Stückes beeindrucken mich die Spielkünste der Musiker*innen, besonders der Solo-Geigerin Carolin Widmann, immer mehr; gleichzeitig frage ich mich auch, wie es sich wohl anfühlt ein Stück zu spielen, das im jetzigen Jahrhundert komponiert wurde. Ich stelle mir die Frage, wo denn die größten Unterschiede zur Klassik liegen und was die Schwierigkeiten sind.
In der Pause setze ich mich also mit Johannes Watzel, der seit 23 Jahren im DSO Geige spielt, zusammen. Er erklärt, der erste große Unterschied von neuer Musik zu traditionellen Werken seien die Noten. Man kennt die traditionelle Notenschreibweise aus jeder Form der Musik und auch in der neuen Musik wird sie verwendet. Hinzu kommen allerdings diverse Zeichen und Anweisungen, die nicht immer eindeutig und verständlich sind. Herr Watzel zeigt uns seine Noten und erzählt, dass er oft nach dem ersten Angucken seiner Noten noch nicht zu 100% daraus schlau werde. Er macht uns auf eine Stelle aufmerksam, an der neben einer gehaltenen Note eine Wellenlinie zu sehen ist. „Und was macht man jetzt damit?“, frage ich mich. Herr Watzel holt eine 3-seitige Erläuterung zu den Noten, in der sämtliche verwendete Zeichen erklärt werden. Die Wellenlinie bedeutet beispielsweise das Kreisen des Geigenbogens auf der Seite. Diese Zeichen müsse man aber erstmal verstehen, erklärt Herr Watzel, um überhaupt richtig spielen zu können.
Auch der*die Dirigent*in spiele in der modernen Musik laut Herrn Watzel eine besondere Rolle: Teilweise ändere sich jeden oder jeden zweiten Takt die Taktart; auch in verrückte Taktarten wie 3/8 oder 5/8. Da sei es sehr wichtig, dass ein*e Dirigent*in vorne einen klaren Schlag gibt, an dem man sich orientieren kann.
Auf die Frage, ob neue Musik komplizierter zu spielen sei als traditionelle Stücke, antwortet Herr Watzel mir, dass die Proben neuer Werke für den Kopf anstrengender sind, auch wenn sie technisch nicht unbedingt anspruchsvoll sein müssen.
Nach der kurzen Pause geht dann die Probe weiter mit „Dropped drowned“ von Sarah Nemtsov . Hier ist das Spannende, dass Frau Nemtsov selber vor Ort war. Nach einem Durchlauf des Stückes und einigen Korrekturen des Dirigenten Johannes Kalitzke kommt sie selber zu Wort, um ihre eigenen Wünsche einzubringen. Besonders beeindruckend ist hier, als Frau Nemtsov dem Klavier den gewünschten Klang entlocken möchte: Der Pianist Holger Groschopp soll mit einem Glas über die Saiten streichen, sodass ein Glissando zu hören ist. Mehrere Minuten probieren die beiden aus, welches der Gläser den Klang erzeugt, der am meisten der Vorstellung der Komponistin entspricht.
Nach der Probe habe ich die Gelegenheit, mit Holger Groschopp zu sprechen. Er erzählt mir, dass das, was ich gerade eben erlebt habe, eine große Schwierigkeit der neuen Musik sei. Teilweise stünde in den Noten: „Mit einem Glas über die Saite des Klaviers streichen“, was eine doch sehr ungewöhnliche, aber präzise Aussage ist. Herr Groschopp erklärt mir aber, dass trotz der genauen Angabe noch sehr viel Spielraum sei und es unglaublich schwierig ist, den Klang zu finden, den sich der*die Komponist*in vorstellt. Beispielsweise haben verschiedene Gläser verschiedene Effekte auf den Klang. Es gilt nun herauszufinden, welchen Klang die Komponistin hören möchte und wie dieser am besten zu erreichen ist.
Ich bin beeindruckt, wie viel ich allein in wenigen Stunden über neue Musik erfahren konnte und freue mich auf das anschließende Konzert.