Wolfgang Rihm

Wolfgang Rihm - Bild © Hans Peter Schaefer / Wikimedia Commons
Als Wolfgang Rihm, geboren 1952 in Karlsruhe, 1974 bei den Donaueschinger Musiktagen von weiten Kreisen der Musikszene als Komponist wahrgenommen wurde, hatte man rasch das Etikett „Neoromantik“ parat. In der Rückschau eine oberflächliche, viel zu enge Nische für sein Schaffen. Selbstbewusst verwarf Rihm, der u. a. bei Wolfgang Fortner und Klaus Huber studiert hatte, die postseriellen Techniken und Theorien der Nachkriegsavantgarde. Stattdessen brachte er voller Selbstvertrauen und wohl auch etwas eigensinnig wieder Ausdruck und sogar Gefühl in die Musik. Der Umstand, dass seine Vorgänger, Hans Werner Henze oder Aribert Reimann, für so etwas von den Granden der Neuen Musik wie Pierre Boulez oder Karlheinz Stockhausen belächelt wurden, kümmerte ihn nicht. Seine Werke waren ausgeklügelt genug gebaut, um derartiger Kritik standzuhalten. Die Entwicklungen im zeitgenössischen Komponieren gaben ihm bald Recht: Heute sind Diskussionen etwa um das Tabu eines tonalen Zentrums oder um Emotionen obsolet geworden. Rihm ging es letztlich um eigene Regeln in seiner Musik, um einen individuellen Umgang mit Struktur, Textur, Klangfarbe, im spezifischen Einsatz von Instrumenten und Vokalstimmen, in der Arbeit mit dem Klangraum. All das hat Rihm mit Weitblick und Tiefgang in vielen Werken kompositionstechnisch weitergeführt. Er setzte sich mit Grundfragen der Musik auseinander, mit Ton, Resonanz, Klangfläche, Melodieaufbau. Eine ganze Werkreihe Rihms trägt den Titel Über die Linie. Genauso bedeutend: sein neuartiger Zugang zu Virtuosität, beispielsweise in seinem später als Ballettmusik berühmt gewordenen Orchesterwerk Jagden und Formen (2001/2008), nicht als zirzensischer Effekt, sondern als Aggregatzustand von Musik. Und seine neuen Lösungen für die Vokalmusik, das gleichberechtigte Aushandeln von Vokalem und Instrumentalem in Et Lux (2009) oder sein markantes Stabat mater (2020), das keinen Chor braucht, sondern mit Bariton und Bratsche auskommt.
Überhaupt: Wolfgang Rihm, umfassend belesen in Lyrik, Prosa, Dramatik, Philosophie, wurde zu einem der bedeutendsten Liedkomponisten der letzten 50 Jahre. Von Friedrich Hölderlin und Rainer Maria Rilke bis zu heute noch immer weithin übersehenen Lyrikerinnen des 20. Jahrhunderts wie Christine Lavant hat er Gedichte für Lieder herangezogen. Und von Heiner Müller, dessen Hamletmaschine Rihm zu Musiktheater inspirierte, 1987 in Mannheim uraufgeführt. Seine frühe Oper Jakob Lenz (Hamburg, 1979), ein auskomponiertes Psychogramm, kann sich bis heute im Repertoire halten. Auch die hochgespannten, intensiv gleißenden Klänge von Oedipus (Berlin, 1987). In Die Eroberung von Mexico (Hamburg, 1992) mit der Figur des Montezuma als Sopranpartie hat er heutigen Diskursen zu Kolonialismus, Patriarchat und Genderfragen vorgegriffen.
Weit über 400 Kompositionen umfasst die Werkliste von Wolfgang Rihm. Bereits als Elfjähriger hat er komponiert. Mit vierzehn Jahren, 1966, schrieb er sein erstes Streichquartett. 13 Werke allein dieser Gattung hat er komponiert. Auf seine imponierende Produktivität angesprochen, entgegnete der vielfach mit Ehrungen und Preisen bedachte Rihm einmal: „Ich mache vielleicht sonst nichts anderes. Ich dirigiere nicht, Ich lebe relativ ruhig mit meiner ganzen Unruhe. Und schaffe. Gut, ich unterrichte auch.“ Eine gelinde Untertreibung eines inspirierenden Professors an der Hochschule für Musik Karlsruhe, dessen Schüler:innen selbst schon große Namen in der heutigen Musikszene sind, so beispielsweise Jörg Widmann, Rebecca Saunders, Márton Illés und Vykintas Baltakas.
Wolfgang Rihm, nicht nur Komponist, sondern auch ausgebildeter Musikwissenschaftler, vielfach interessiert und fundiert informiert über Literatur, Philosophie und die Künste, war zudem ein profilierter Musikschriftsteller und Essayist. Und aufgrund seines Engagements in vielen Interessensvertretungen von Musikschaffenden und als künstlerischer Berater diverser Musikeinrichtungen nicht zuletzt auch ein unermüdlicher Streiter für die Stellung der Kultur in der Gesellschaft. Am 27. Juli 2024 ist er in Ettlingen im Alter von 72 Jahren gestorben.
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