Deine Begeisterung für Jon Fosse geht auf Luk Percevals Inszenierung in den Münchner Kammerspielen 2002 zurück. Auf das Stück Sommertag bist Du später in einem Fosse-Band gestoßen – Material für deine erste Oper. Was hat dich an Fosses karger Poetik unmittelbar angesprochen?
Das waren die Zwischenräume innerhalb des Texts und die Pausen, das Schweigen in seinen Stücken. Fosses Texte beschreiben im Grunde nichts Konkretes, sie nageln nichts fest. Seine Worte erscheinen sogar banal, sind aber so raffiniert ineinander gefügt, dass sich zwischen Worten und Sätzen ganze Resonanzräume eröffnen. Darin habe ich sofort etwas klingen gehört.
Aus Fosses Theaterstück hat sich ein Libretto herausgeschält, das eigentlich durch den Vorgang des Streichens entstanden ist. Nach welchen Kriterien hast du gestrichen?
Für das Musiktheater brauchte ich wirklich nur ganz wenig, die Essenz. Ich habe Situationen gesucht, die sich mit Spannung au aufladen, oder widersprüchliche Momente, in denen Pole aufeinanderprallen. Von Anfang an war mir ganz wichtig, eine Unterteilung in erkennbare Szenen zu schaffen: Darin kann ich Figuren musikalisch heranzoomen und aus dem Fokus auch wieder heraus treten lassen.
Die klare musikdramaturgische Architektur, der Wechsel von Figuren und Instrumentalisten fällt an deiner Partitur auf. Darin kommen – für mich etwas überraschend – auch die Bezeichnungen Duett, Terzett, Quartett und Aria vor. Intuitiv denke ich an Mozart.
Völlig zu Recht. Mozarts Opern sind perfekte Architektur. Ich habe mir tatsächlich seine Struktur vorgenommen und geschaut, in welchem Wechsel er die Figuren auftreten lässt. Große Ensemblestücke gibt es meistens nur gegen Ende. Man denke an den Figaro. So verhält es sich auch in Sommertag. Als Reminiszenz an Mozart finden sich diese Begriffe wieder.
Architektonisch wichtig ist auch, für welche Eröffnung sich ein Komponist entscheidet: in Bartóks Blaubart ist es ein Sprecher, in Zimmermanns Soldaten ein Orchestervorspiel oder in Brittens Lucrezia ein unvermittelter Einstieg. Sommertag beginnt mit einer Generalpause.
Genau, das ist ganz wichtig. Diese Pause steht wirklich sehr bewusst da und ist nochmals eine Verbeugung vor Fosse. Im Verlauf der Partitur tauchen immer wieder Pausen und unterschiedliche, teils komponierte Formen von Stillstand oder Sprachlosigkeit auf.
Vorhin ist schon das Wort ›Essenz‹ in Bezug auf den Text gefallen. Die Kammeroper wird von vielen Verfechtern des Genres als Essenz der großen Oper, als Gegenpol zum pompösen Musik- drama geschätzt. War diese entschlackte Form für Sommertag von vorneherein eine bewusste Wahl?
Das endgültige Format dieses Musiktheaters entstand letztendlich durch eine Mixtur aus schlichter Pragmatik und sehr genauem Hinhören: Wie lässt sich dieses Projekt tatsächlich realisieren? Was verlangt dieses Stück musikalisch? Dadurch wurde es auch schlanker. Ich hatte ja das Glück, schon früh im Team mit Waltraud Lehner und Katherina Kopp an der Konzeption gemeinsam zu arbeiten. Während unserer szenischen Probenarbeit zeigte sich nochmal besonders deutlich: Dieses Stück braucht eine Reduktion auf das Wesentliche. Alles Weitere würde stören.
Ist mit dem Musiktheater Sommertag auch eine Umdeutung des ursprünglichen Fosse-Texts entstanden?
Ich würde es eher eine Umgewichtung nennen. Die Musikalisierung des Texts liefert natürlich eine Deutung. Musik folgt eigenen intrinsischen Gesetzen und baut Kraftlinien und -felder auf. Ich wollte beispielsweise, dass die erste und die letzte Szene musikalisch auf ein und demselben Fuß stehen. Aber kehren wir am Schluss wirklich genau zum Anfang, also zu Szene 1 zurück? Oder ist ›die Frau‹ am Ende durch die Konfrontation mit der Vergangenheit auf einer anderen Bewusstseinsebene angekommen? Ich denke letzteres, und das ist meine persönliche Interpretation.
Sommertag spielt sich auf zwei Zeitebenen ab, im Jetzt und im Damals. Deren Verschränkung treibt die Entwicklung der Oper wie ein Motor voran.
Schon bei meiner ersten Begegnung mit Fosses Werk hat mich diese Gleichzeitigkeit berührt. Genau das habe ich bewundert. Wir kennen das Gefühl, dass im konkreten Jetzt noch etwas anderes durchschimmert, dass ein Subtext aus der Vergangenheit mitläuft.
Nimmt man diese Schichten bewusst wahr, ist der Moment unserer chronologischen Zeit enthoben – und das widerfährt auch Figuren in Sommertag.
Die Vergangenheit wird aber nicht als Erinnerung nacherzählt, sondern ganz konkret dargestellt. Das ist für ein Bühnengeschehen ungewöhnlich. Tatsächliche Rückblenden kennen wir eigentlich eher aus dem Kino. Wie funktioniert das musikalisch?
Ich habe Fosses Idee übernommen, manche Figuren aufzuspalten. ›Die Frau‹ wird entsprechend durch zwei Sängerinnen dargestellt, die sie in zwei Lebensaltern zeigen. Die Jüngere und die Ältere sind vom Stimmtyp unterschiedlich. Darüber hinaus habe ich ihnen Instrumentalisten zur Seite gestellt, die mit ihnen korrespondieren und ihre Figuren erweitern: der Älteren den Kontrabass, der Jüngeren die Violine. Es gibt vor allem eine gemeinsame Motivik, die die Zusammengehörigkeit kenntlich macht. Wie sie den musikalischen Kern der Figur miteinander teilen, variiert je nach Stand der Selbst- begegnung. Mit seinem Kunstgriff, eine Figur aufzuspalten, hat Fosse bereits die Möglichkeit einer sehr reellen Selbstkonfrontation geschaffen, und zwar jenseits bloßer Sentimentalität wie etwa beim Betrachten von Jugendfotos. Hier ist es tatsächlich innere Wirk- lichkeit: Ich realisiere, ich war mal ein anderer Mensch, der andere Entscheidungen getroffen hat, andere Erlebnisse hatte. Da entsteht Spannung, Polarität und innerer Raum.
Die Achse, um die sich alles dreht, ist Asle: die einzige Figur, die einen Namen trägt, paradoxerweise verschwunden ist, in der Erinnerung seiner Frau aber sehr präsent bleibt. Ein seltsamer Held.
Ich hatte immer großes Mitleid mit Asle und habe mit seiner Be- grenztheit mitgefühlt. Aber er ist schon auch ein Held. Er hat eine Utopie, einen Traum. Für seine Figur habe ich Fosses Idee der Auf- spaltung weitergesponnen und Beziehungen gesetzt, die bei Fosse nicht existieren. Bei Asle gibt es so viel Ungesagtes quasi Fremdbe- stimmtes. Deshalb habe ich ›die Stimme‹ ins Spiel gebracht, die ihn karikiert und dirigiert.
Asle sticht auch musikalisch hervor: Nur in seinem Part gibt es tatsächlich metrisch auskomponierte Musik. Dieser feste Puls wirkt wie ein Korsett im Gegensatz zu den anderen proportional notierten Stimmen. Sie liegen linear übereinander, aber einen festgelegten Puls und eine vertikale Ordnung gibt es nicht. Welchen Effekt hat diese Technik?
Die Sänger und Instrumentalisten sollen direkt aufeinander reagieren, ohne durch gemeinsame Zählzeiten organisiert zu sein. Es ist ein Versuch, möglichst nahe an eine Aktualität ihrer Aktion und Reaktion heranzukommen. Die Ausführenden müssen noch viel dichter an den Figuren dran sein, quasi selbst mitreden. Dadurch durchlaufen die Figuren eine starke Entwicklung.
Im Theaterraum sieht man eine Uhr, die nur in zwei Szenen läuft. Dann müssen Sänger und Instrumentalisten ein bestimmtes Material innerhalb einer festgelegten Zeitspanne musizieren. Die Uhr dirigiert diese Abläufe. Was hat es mit diesen ›time brackets‹ auf sich?
Die Praktikabilität habe ich mir bei John Cage abgeschaut und schon bei eigenen Stücken wie den Songlines festgestellt, dass es funktioniert. Es ist aber eher eine Technik als eine Philosophie. Die Musiker haben dadurch viel Raum, ihre Stimme innerhalb eines festgelegten Zeitrahmens frei zu organisieren – und aufeinander zu reagieren. Wir haben schon von Polarität und Spannung gesprochen, und diese Technik diente mir bei der Musikalisierung als ein adäquates Werkzeug.
Andererseits hat die Uhr auch eine dramatische Wirkung im Theaterraum: Die Zeit läuft! Das geschieht ausgerechnet in den zwei Szenen, in denen sich die Selbstkonfrontation der›Frau‹ mit der Vergangenheit dramatisch zuspitzt.
Ja, die Zeit läuft, und du wartest. Irgendetwas kommt auf dich zu, aber du weißt noch nicht genau was. Als ich mich entschied, zwei bestimmte Szenen musikalisch mit Uhr zu organisieren, habe ich gleich in der Partitur notiert: Uhr muss für alle – auch das Publikum – gut sichtbar sein.
An vielen weiteren Stellen zeigt die Partitur, dass du dramaturgische Ideen beim Komponieren schon mitgedacht hast. Wann entstand das Konzept für ein »Musiktheater im Raum«?
Das entwickelte sich dank der frühen Zusammenarbeit mit dem Inszenierungsteam in gegenseitiger Inspiration recht schnell. Von Anfang an hatte ich die Stimmen der Neuen Vocalsolisten Stuttgart im Ohr. Ich habe mir deren jeweilige Stimmtypen vorgestellt, habe sogar bereits die jeweilige Person in ihrer entsprechenden Rolle gesehen. Dann entstand die Idee, den fünf Vokalsolisten eine Gruppe Instrumentalsolisten zur Seite zu stellen. Das griffen wiederum meine Kolleginnen auf: Sänger und Musiker sollten sich in einem gemeinsamen Raum, also auf ein und derselben räumlichen Ebene begegnen. Schließlich sollte auch das Publikum ebenbürtig in diesem gemeinsamen Raum sitzen – und zwar als Beobachter und Teil des Geschehens.
Wie war es für den Komponisten und Librettisten Nikolaus Brass,
diese Partitur in die Hände eines Regisseurs zu legen? Natürlich war das spannungsvoll, für mich aber vor allem sehr berei- chernd. Christian Marten-Molnár hat ganz neue Spannungsmo- mente aufgespürt, die ich noch gar nicht wahrgenommen hatte. Ich wäre sicher viel harmloser an eine Inszenierung herangegangen.
Im Vorfeld der Uraufführung fand eine mehrteilige Biennale- Werkstatt der Münchener Volkshochschule statt, die einem interessierten Publikum Einblicke in Komposition, Stoff und den Inszenierungsprozess ermöglichte. Neben der grundsätzlichen Vermittlungsarbeit bietet ein solches Format auch einen ge- schützten Raum, sich mit einem neuen Stück auseinanderzu- setzen und nachzufragen. Am künstlerischen Entstehungsprozess dicht dran zu sein und daran teil zu haben, befähigt ein Publikum auch zu einer viel differenzierteren Rezeption.
Ich nde dieses Format richtig gut, und ich war wirklich neugierig auf die Werkstattinhalte. Während des Entstehungsprozesses von Sommertag habe ich sehr intuitiv gearbeitet und mich wenig mit Theorien des Musiktheaters auseinandergesetzt. Aber dieses the- oretische Umfeld ist mir natürlich sehr wichtig. Das Interesse des sogenannten Laien an meiner Musik ist für mich überhaupt ein Maß- stab. Ich selbst bin als Hörer von Musik so berührt worden, dass mein Interesse am Komponieren geweckt wurde. Das ist mein An- satz. Vom Empfangenden wurde ich zum Aktiven. Das ist wahrscheinlich der Kreis, der sich in jedem Menschen dreht. Das ist der Punkt, an den ich glaube.
Das Gespräch führte Shoshana Liessmann.