Bei Younghi Pagh-Paan verbinden sich fernöstliche Ästhetik und Musiktraditionen mit avancierten Herangehensweisen westlicher Neuer Musik, geprägt von einem markanten persönlichen Charakter und einer Mystik, die Einflüsse des Buddhismus und des Christentums verbindet. So ließe sich die Kunst von Younghi Pagh-Paan vielleicht auf eine Formel bringen. Am 30. November 2020 feierte die bedeutende Komponistin und Lehrerin ihren 75. Geburtstag.
Zu ihrem Werkzyklus Silbersaiten wurde Younghi Pagh-Paan durch das Gedicht Jugendgedenken von Gottfried Keller inspiriert. In eindrucksvollen Bildern aus der Natur (»Lindenwipfelwehn«) und Instrumentenkunde (»Silbersaite«) wird der Rückblick des reifen Menschen auf die frühen Jahre des Lebens zum Ausdruck gebracht. Und die Frage gestellt, was aus der Jugend im Alter bewahrt werden kann: Es ist die Vorstellung oder die Erinnerung des Klangs einer Saite, der lang nachhallt, »Der mein Leben lang, / Erst heute noch, widerklang, / Ob die Saite längst zerrissen schon«. Die Komponistin hat dazu einmal bemerkt: »Von Gottfried Kellers Gedicht Jugendgedenken stark beeindruckt, kam mir die Idee zu der Komposition dieses Stückes. Der vom Dichter verwendete Begriff ›Silbersaite‹ symbolisiert eine Begegnung, die – wie das Anschlagen einer Saite einen Klang erzeugt – noch lange im Herzen nachklingt.«
Unter dem Eindruck des Gedichts ist seit 2002 ein Zyklus von Kammerwerken in verschiedenen Besetzungen entstanden: Silbersaiten (I) (2002) für Violine, Violoncello und Klavier, Silbersaiten II (2002/09) für Klarinette, Violoncello und Klavier, Silbersaiten III (2002/09) für Flöte, Violoncello und Klavier (2002/09), Silbersaiten IV (2010) für Akkordeon und Klavier und Silbersaiten V (2013) für Altflöte, Viola und Harfe. Praktisch ein Work in Progress: Silbersaiten II bis V sind Varianten, Transformationen, Anreicherungen und Weiterentwicklungen des Ausgangsstücks Silbersaiten (I).
Younghi Pagh-Paan kreiert in ihrer Kammermusik filigran gebaute, aber auch weit ausgreifende, tief in den Klangraum reichende, innige, schillernde, expressive Werke. Sie hat ein untrügliches Gespür für die interne Ensemblekommunikation, von der Feinarbeit in der Artikulation und der klangfarblichen Gestaltung bis zur Mikroebene des Einzeltons. Diese Konzentration auf die vielfältigen Nuancen des Einzeltons ist in der traditionellen koreanischen Musik begründet, deren Ästhetik Younghi Pagh-Paan in jedes ihrer Stücke einfließen lässt. Der fokussierte kompositorische Blick auf den Einzelton gestaltet sich als eine Art Meditation über den Klang mit all seinen feinen Nuancen, die es zu erfahren, zu erleben, wertzuschätzen, zu erforschen und zu erkennen gilt.
In Silbersaiten II tritt aus einer löchrigen Textur ein hoher Liegeton (a2) hervor, zunächst im Cello, bald gefolgt von der Klarinette. Im weiteren Verlauf des Stücks wird dieser Zentralton musikalisch verschiedenartig beleuchtet, aus unterschiedlichen klanglichen Perspektiven: Mit dichten Akkorden, fein nuancierten Tremoli und Vibrati, Einsätzen der Klarinette in hohen Lagen, mit ätherischen Flageoletts des Cellos, stimmlosen Klängen, mikrotonalen Anreicherungen, insistierenden Gesten und immer wieder durch eindringliches Umspielen weiterer Einzeltöne.
Das intensive Zusammenspiel der drei Instrumente führt mitunter zu kurzen echoartigen Dialogen und expressiven Verdichtungen. An manchen Stellen führt eine Instrumentenstimme, ansetzend bei der gleichen Tonhöhe, die Linie der vorherigen fort, etwa zu finden bei Einsätzen der Klarinette und des Cellos. Kohärente, dicht verfasste Strukturen wechseln ab mit komplementär sich ergänzenden Verbindungen. Zudem gibt es Zusammenklänge in weit voneinander entfernten Lagen: wenn etwa das Cello in einem tiefen Register spielt, während die Klarinette, überaus wandlungsfähig, in hohem Register geradezu instrumentale Schreie ausstößt, notiert in der Partitur in besonderen Noten mit Pfeilen nach oben mit der Bemerkung »hoch wie möglich«.
Gegen Ende von Sibersaiten II schließt sich der Bogen dieses vielgestaltigen klanglichen Ausforschens, der musikalische Satz wird ausgedünnt. Das Klavier geht zuerst aus dem Geschehen, was bleibt, ist das Duo Klarinette und Violoncello, und somit die beiden Instrumente, die schon zu Beginn mit ihren Liegetönen hervortraten.
Eckhard Weber