Das Konzert für Viola und Orchester von York Höller ist eine Hommage an gleich zwei einflussreiche Komponisten des 20. Jahrhunderts, die beide für unterschiedliche Positionen stehen: Bernd Alois Zimmermann (1918–1970) und Pierre Boulez (1925–2016). Zu beiden hat der 1944 in Leverkusen geborene, heute in Köln lebende York Höller eine enge persönliche Beziehung. Ab 1963 studierte er an der Kölner Musikhochschule bei Zimmermann, der ihn nachhaltig prägte. Die Polystilistik und die Collagetechniken im Sinne von Zimmermanns „Kugelgestalt der Zeit“ in dessen Oper Soldaten (Köln 1965) haben nicht zuletzt ihren Nachhall in York Höllers eigenem Musiktheaterwerk Der Meister und Margarita (Paris 1989) gefunden. Im Vorfeld der Kölner Uraufführung seines Konzerts für Viola und Orchester im Rahmen einer ganzen Reihe von Veranstaltungen zum hundertsten Geburtstag von Bernd Alois Zimmermann 2018 in Köln betonte York Höller seine Verbundenheit zu seinem Lehrer: „Nicht zuletzt gibt es – vereinfacht gesagt – eine gewisse Affinität im Bereich des Expressiven, des Ausdrucks, den ich ebenso entschieden verteidige, wie Zimmermann dies tat und auf seine Weise Kalkül, Intuition und Spontaneität miteinander zu verbinden wusste.“
Pierre Boulez wiederum war bereits 1965 York Höllers Lehrer bei Analysekursen bei den Darmstäter Ferienkursen für Neue Musik. Als Boulez schließlich Gründungsdirektor des von ihm maßgeblich angeregten Forschungszentrums für elektroakustische Musik IRCAM am Pariser Centre Pompidou wurde, kam bei der Eröffnung dieser Institution 1977 York Höllers erstes Streichquartett Antiphon zur Uraufführung. Bald folgte eine Einladung für eine Residenz am IRCAM, verbunden mit dem Kompositionsauftrag für York Höllers Ensemblewerk mit Zuspiel ARCUS zur Eröffnung des „Espace de Projection“ am IRCAM. Weitere gemeinsame Projekte mit Pierre Boulez, der auch als Dirigent mehrere Werke von Höller uraufgeführt hat, folgten. Rückblickend sagte York Höller einmal über Boulez: „Er war einer der wichtigsten und beständigsten Förderer meiner Musik, dem ich mich künstlerisch und persönlich sehr verbunden fühlte.“
Angeregt wurde York Höllers zu seinem Bratschenkonzert von seiner Kollegin Unsuk Chin, die eine Konzertreihe beim Seoul Philharmonic Orchestra kuratierte. Die Komposition entstand als Auftragswerk für Seoul und Köln, wo die Bratschistin Tabea Zimmermann das Konzert im Mai 2018 mit dem Gürzenich-Orchester und dessen Leiter François-Xavier Roth am Rahmen des Festivals ACHT BRÜCKEN – Musik für Köln uraufgeführt hat. In einem Werkkommentar hat York Höller einmal erläutert, dass alle drei Sätze seines Bratschenkonzerts aus einer einzigen „Klanggestalt” bestehen. Diese „Klanggestalt“ des Werks lässt sich, so York Höller in seinen Ausführungen, im Bratschenkonzert auf eine „Urzelle” von kleiner und großer Sekunde zurückführen. Daraus entsteht im Verlauf des Stücks ein bis zu dreißigtöniges melodisch-harmonisches Gebilde. Dieses sei „zwar nicht nach Kriterien traditioneller Tonalität, aber durchaus nach Gesichtspunkten musikalischer Logik entwickelt“ worden. Die „Klanggestalt“ erscheint im Verlauf des Stücks zumeist nicht in voller dreißigtöniger Ausprägung, stattdessen werden Teile abgespalten,sequenziert, variiert, umspielt und auf andere Art und Weise verändert. Diese Art von Gestaltungsprinzip bezeichnet York Höller als „permanente Durchführung“ und betont dabei: „Mit anderen Worten: Diese Klanggestalt und deren Äquivalente in anderen Werken von mir sind keine starren, sondern flexible Gebilde, bei denen es im kompositorischen Umgang mit ihnen darum geht, starre Mechanismen zu vermeiden, sie stattdessen immer wieder strukturell und ausdrucksmäßig neu zu beleuchten und zu konfigurieren.“
In der Großform habe er „dieses Moment des kontrastreichen Perspektivenwechsels“ in einer bewussten Bezugnahme zur klassischen dreisätzigen Konzertform realisiert, mit ihrem Temposchema schnell-langsam-schnell für die Sätze. Der Eingangssatz orientiert sich sogar in Ansätzen an den aus der Klassik überlieferten Charakter des Kopfsatzes in einem Konzert: Bei York Höller gibt es gegensätzliche Elemente, die das Kontrastprinzip von Haupt- und Seitenthema aus der klassischen Sonatenhauptsatzform übernehmen. Zudem sind im Bratschenkonzert wiederkehrende Gestalten zu bemerken, die von Ferne der Reprise im klassischen Schema des Sonatenhaptsatzform entsprechen. Der traditionellen Konzertform verpflichtet ist auch „eine kleine Kadenz, in deren Verlauf die Solo-Viola in einen Dialog mit einer Solo-Klarinette tritt“, wie der Komponist in seinem Werkkommentar bemerkt hat.
Als York Höller begann, sein Konzert konzeptionell vorzubereiten, starb im Januar 2016 in Baden-Baden Pierre Boulez. York Höller entschied bald, den zweiten Satz seines Bratschenkonzert – letztlich als Tombeau, wie es im Französischen heißt – dem Verstorbenen zu widmen. Der melancholisch geprägte Soloeinsatz der Bratsche, mit der dieser Satz beginnt, ist von französischer Lyrik inspiriert. Das Gedicht Chanson d’automne aus der Feder des französischen Wegbereiter des Symbolismus Paul Verlaine (1844–1896) hat York Hölller zu der Eingangsmelodie angeregt. In der ersten Strophe dieses Gedichts ist die Rede von „Les sanglots longs / des violons / de l’automne “, auf Deutsch „die langen Seufzer der Violinen des Herbsts“, die ins Herz dringen. „Die ‚Herbstvioline‘ ist für mich durchaus mehr als ein poetisches Klangsymbol, sondern die prägnanteste und schönste Metapher für die Viola überhaupt“, hat York Höller in einem Interview zu seinem Konzert einmal bekannt. Aus der Melodielinie der Bratsche gestaltet York Höller im weiteren Verlauf, wie er in seinem Werkkomentar erläutert hat, „das Fundament für eine Chaconne, also eine formal klar gegliederte Variationskette, gegen deren Ende der Solo-Viola ein Höchstmaß an Virtuosität abverlangt wird.“ Diese Wahl einer Chaconne knüpft subtil wiederum an Bernd-Alois Zimmermann an, der im 20. Jahrhundert dieses Formmodell aus der Alten Musik in seinem Schaffen in neue Zusammenhänge brachte.
Auch der Finalsatz hat ein fernes historisches Vorbild: Temperamentvoll im Tempo, orientiert dieser sich an einer Rondoform. „Dabei kommt es allerdings nie zu einfachen Wiederholungen“, so York Höller im Werkkommentar, „sondern das aus der Klanggestalt abgeleitete Kopfmotiv wird bei jedem Wiederauftreten anders weitergeführt, sozusagen auf einen neuen Weg gebracht. In dieser Polarität von Identität und Nicht-Identität liegt ein Spannungsmoment, das von jeher für mich wichtig war und ist.“
Eckhard Weber