Bereits bei Ultraschall Berlin 2021 sollte dieses Werk in einem Konzert mit dem Deutschen Symphonie-Orchester Berlin aufgeführt werden. Aufgrund der Corona-Situation vor einem Jahr fand das Festival jedoch schießlich als Radiofestival statt, mit handverlesenen, eigens dafür eingespielten Studioproduktionen und speziellen, im Radio übertragenen Live-Konzerten ohne Publikum. Yiran Zhaos Komposition Oder Ekel kommt vor Essenz für Sprecher und Orchester war damals somit nur im Rundfunk zu hören. Bei Ultraschall Berlin 2022 ist es nun möglich, dieses außergewöhnliche Werk, das Texte des kongolesisch-österreichischen Schriftstellers Fiston Mwanza Mujila verarbeitet und gleichzeitig einsetzt, mit dem Autor als Sprecher live zu erleben. Da die Komposition Anfang Februar auch auf einer neuen Porträt-CD mit Werken und Videos von Yiran Zhao erscheint, wird die Aufführung bei Ultraschall Berlin dieses Jahr gleichzeitig zum Record-Release-Konzert.
Die Berliner Komponistin, Performerin und Klangkünstlerin Yiran Zhao, geboren 1988 in der ostchinesischen Hafenstadt Quingdao, studierte Komposition in Peking, Stuttgart, Basel und Linz, wo sie heute an der Anton Bruckner Privatuniversität unterrichtet. Ihre Arbeiten beschränken sich nicht nur auf Musik, sondern beziehen oft Bühnenkunst, Licht, visuelle Kunst und vielfältige andere Medien mit ein. Ihr Zugang zur Komposition ist stets körperlich, dieser Aspekt bestimmt ihr Schaffen, seien es die Wirkungen der menschlichen Stimme, sei es das Spiel auf einem Instrument. Gleichzeitig beobachtet sie mikroskopisch genau die feinsten Bestandteile klanglicher Nuancen und musikalischer Gesten. Die performative Seite des Musizierens wie auch die visuelle Komponente sind in den Werken Yiran Zhaos stets Teil des musikalischen Denkens.
Ihr 2017/18 komponiertes Stück Oder Ekel kommt vor Essenz für Orchester und Sprecher ist inspiriert und letztlich auch generiert von der 2013 erschienen Gedichtsammlung Le Fleuve dans le ventre/Der Fluss im Bauch des Schriftstellers Fiston Mwanza Mujila. In einem Werkkommentar beschreibt Yiran Zhao, wie sie aus einer Aufnahme, bei der Fiston Mwanza Mujila seine Texte rezitiert, Konsequenzen für die musikalischen Strukturen im Orchester gezogen hat: „Ich unterzog seine Lesungen einer genauen technischen Analyse, indem ich die verschiedenen Klangfarben und Tonhöhenelemente aus der Rezitation des Dichters herausarbeitete, die kurzen Lesungen mit Hilfe von Computerbearbeitung in verschiedene längere Dauern streckte, verschiedene individuelle Charakteristika der Stimme (Tonhöhe, Klangfarbe, etc.) künstlerisch als musikalisches Material umsetzte und Samples von Mujilas Performance in das orchestrale Gewebe integrierte.“ Das klangliche Ergebnis dieser Vorgehensweise vibriert, schillert, flimmert, glüht, gibt sich mal geheimnisvoll, verschattet, mal dramatisch und zugespitzt. Und überrascht mit verblüffenden Finten und Umschlägen in seinem Verlauf. Ganz nebenbei und dezent demonstriert Yiran Zhao auf diese Weise, wie virtuos sie mit den Orchesterfarben umgeht.
Der Schriftsteller Fiston Mwanza Mujila, 1981 in der Millionenstadt Lubumbashi im Süden der heutigen Demokratischen Republik Kongo geboren, lebt in Graz. Er ist in Oder Ekel kommt vor Essenz doppelt präsent: mittelbar durch seine Gedichte, die als Ausgangspunkte die Strukturen des Orchestermaterials bestimmen, und live als Performer dieser Gedichte. Die Bezeichnung „Rezitation“ greift dabei viel zu kurz. Denn wenn der Schriftsteller in Oder Ekel kommt vor Essenz seine Gedichte vorträgt, ist dies nicht bloß ein gesprochener Wortbeitrag innerhalb der Orchesterklänge, sondern eine eigene musikalische Darbietung. Denn, was für sein Schreiben gilt, bestätigt auch sein Live-Vortrag: „Fiston Mwanza Mujila schreibt, wie ein Jazz-Musiker musiziert; er begreift seine Stimme als Saxofon, behandelt Sprache wie Klang und macht sie zur Musik“, hieß es 2019 in einer Ankündigung zu einer Lyrik-Performance von Der Fluss im Bauch mit Fiston Mwanza Mujila am Deutschen Theater Berlin. Der Künstler bringt Emphase und Intensität in seinen Vortrag, das ist insistierend, auch wütend, hochdramatisch, hochexpressiv. Schlüsselworte werden mit Nachdruck repetiert. Und die Musik von Yiran Zhao, die übernimmt diesen Gestus, den Rhythmus sowie die Akzente der Rezitation. Alleine der Streichergruppe zuzuhören, verdeutlicht dies eindrücklich. Das, was zu Beginn im Orchester bereits erahnt wird, dies löst sich mit dem Einsatz von Fiston Mwanza Mujila dann konkret ein. Auf diese Weise bietet Oder Ekel kommt vor Essenz eine so differenzierte wie sinnliche Reflexion über Bedeutungsebenen an den faszinierenden Schnittstellen zwischen Musik und Wort.