Ying Wang: Glissadulation

(2014) 6‘

Das Ensemblewerk Glissadulation der aus Shanghai stammenden Berliner Komponistin Ying Wang enstand 2014 im Zusammenhang mit der audiovisuellen Konzertinstallation Im Wald – Under Trees von Uli Aumüller und Sebastian Rausch, uraufgeführt im gleichen Jahr in Berlin im Konzerthaus am Gendarmenmarkt. Zu den Filmeindrücken wurde Musik unterschiedlicher Komponist:innen aus verschiedenen Epochen eingesetzt, von Georg Philipp Telemann bis zu Uraufführungen. Später wurde auch eine DVD des Projekts veröffentlicht. Die visuelle Sprache des Filmemachers Uli Aumüller provoziert geradezu eine Reaktion auf die Bilder aus der Musik. Er selbst sprach im Zusammenhang mit Im Wald – Under Trees von »Landschaften, die sich für mich immer dann als besonders reizvoll erwiesen, wenn sie gerade auf der Kippe standen zwischen figurativer Gegenständlichkeit, der Ebene also, auf der die Narration noch eine Bedeutung hat – und der Ebene konstruktiver Abstraktion, in der die Proportionen in den Vordergrund rücken, die stofflichen Qualitäten, die Rauheit – oder im übertragenen Sinn: Die Musikalität.« Im Wald – Under Trees ist eine filmische Zusammenstellung, Abtastung, Erkundung eindrucksvoller Panoramafotos, die in einem Wald am Brückentinsee – er befindet sich nördlich von Berlin, an der Grenze zwischen Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern – aufgenommen wurden. Die Filmkamera leitet das Auge der Betrachter:innen mit verschiedenen Kamerafahrten und Zooms zu den Details und Totalen. Auf diese Weise ergeben sich sehr reichhaltige Bildausschnitte und damit vielfältige Einblicke in den Lebensraum Wald. 

Die Musik, die für die besondere Bildsprache von Im Wald – Under Trees eingesetzt wurde, hat deshalb auch nicht die Funktion einer Filmmusik, sondern ist eine eigenständige auditive Schicht neben der visuellen. Im Interview für Ultraschall Berlin 2023 hat Ying Wang erklärt, dass ihr Stück Glissadulation deshalb natürlich auch nicht als Programmmusik einer Naturbetrachtung konzipiert war. Es ging ihr nicht um Bildinhalte, sondern um eine Übertragung der filmischen Bildästhetik in eine klangliche Ebene: »Ich habe versucht, die Kameraführung in Klänge zu übersetzen«, betont Ying Wang. Die Komposition hat somit eine autonome Gestalt. Sie kann zu den Filmbildern erklingen, trägt aber auch als kammermusikalisches Konzertstück. Seit der konzertanten Aufführung der von Ying Wang nochmals überarbeiteten Neufassung von Glissadulation 2015 im Deutschlandfunk in Köln, interpretiert vom Ensemble Phoenix Basel unter der Leitung von Jürg Henneberger, gab es mittlerweile mehrere weitere Aufführungen dieser Fassung des Werks, etwa inWien, Shanghai und Rom.

Die Filmbilder von Im Wald – Under Trees, für die Ying Wangs Musik zum Einsatz kam, zeigten die Transformation des Waldes vom Winter zum Frühling. Die Kamera führt in das Dickicht des Waldes, geht nah an einzelne Baumstämme, zeigt aus der Ferne mehrere Bäume als Einheit und schwengt in die Baumkronen mit ihrem frischen Grün. Ying Wang hat für die durchgehend langsamen Kameraschwenks im Film die klangliche Entsprechung des Glissandos gefunden, das übergangslose, gleitende Verbinden von Tönhöhen, und unterschiedliche schwebende Klangbewegungen. Die  Zooms der Kamera finden in der Musik wiederum ihre musikalische Antwort in der Modulation, der Überleitung von einem Tonmaterial in ein anderes. Dies sind die beiden gestalterischen Grundprinzipien in Glissadulation. Gleichzeitig spielen auch verschiedene Dichtegrade der Klänge eine wichtige Rolle. Doch so schematisch und nüchtern, wie so etwas vordergründig wirken könnte, sind die konkreten klanglichen Verhältnisse in Glissadulation keineswegs. Wie Ying Wang diese Grundprizipien auf vielfältige und sehr differenzierte Weise ein, macht den großen Reiz ihrer Musik aus: Vollziehen sich die  Glissandi vor allem in den Melodieinstrumenten des Ensembles, Flöte und Klarinette sowie Violine und Cello (dessen vierte Saite eine kleine Sext tiefer gestimmt ist, was für veränderte tonale und klangfarbliche  Verhältnisse sorgt), so fügen das präparierte Klavier und das überaus farbenreiche Schlagzeug in Glissadulation vielfache Nuancen hinzu. Die Nucancen des Schlagzeugs mit seinem fein abgestimmten Instrumentarium, das teils auch rhythmisch pulsierend zur Geltung kommt, reichen, so dezent wie vielfach abgestuft eingesetzt, von der Großen Trommel bis Bongos, von Pauken bis zur hölzernen Schlitztrommel, von der Stabreibtrommel Waldteufel bis zum Flexaton, von Kuhglocken bis zum Tamtam. Dieses weite Klangsprektrum sorgältig eingesetzter, feinster Klangbausteine sorgt für den sinnlich erfahrbaren Höreindruck, dass hinter den fließenden Bewegungen und den mikrotonal gefärbten Clustern ein weiteres, reichhaltiges filigranes Gewebe liegt, das tatsächlich auch subtil durchscheint. Dies ist die noch faszinierendere Dimension in Glissadulation – vergleichbar mit der Faszination eines Baumes und den verschiedenen Orten eines Waldes, in denen sich wiederum vielfältige, zunächst dem Auge verborgene Mikrokosmen verbergen. Genau diese Entdeckungen vermitteln sich im subtil gestalteten, reichhaltigen Innenleben von Ying Wangs Musik. 

Eckhard Weber