Auch das dritte Stück des Abschlusskonzerts von Ultraschall Berlin 2023 ist eine Auseinandersetzung mit der Covid-19-Pandemie. Über die Beweggründe, ihr Orchester Stück 528 Hz 8va zu komponieren, hat Ying Wang im Interview für Ultraschall Berlin erklärt: »Nach gut einem Jahr Corona fand ich, dass wir 2021 wieder mehr Liebe brauchen, wieder Frühlingsgefühle, Lebenslust, mehr positive Energie. Ich wollte mit der Musik universelle Liebessignale an die Welt senden.«
Ying Wangs Stück ist ein Auftragswerk für zwei Festivals, in Essen und Stuttgart. Als Orchesterwerk kam 528 Hz im November 2021 beim NOW Festival in Essen zur Uraufführung, gespielt von der Neuen Philharmonie Westfalen, die Leitung hatte Johannes Kalitzke. Danach ging Ying Wang nach Freiburg ins SWR Experimentalstudio und entwickelte mit dem erfahrenen und findigen Team dort eine elektronische Schicht und kreierte so die Fassung 528 Hz 8va. Die in der Notenschrift gebräuchliche Abkürzung für Oktavierung »8va« im Titel steht dabei für die Elektronik, die auf acht Kanäle verteilt ist. Diese neue Fassung des Werks wurde im Februar 2022 beim ECLAT Festival in Stuttgart vorgestellt, diesmal mit dem SWR Symphonieorchester und Gregor Mayrhofer am Dirigentenpult in der Klangregie des SWR Experimentalstudio. Diese Fassung wird nun bei Ultraschall Berlin 2023 präsentiert.
Durch die Elektronik sei ihr Orchesterstück »verjüngt« worden, wie es im Vorwort der Partitur 528 Hz 8va heißt: »Ying Wang macht sich auf die Suche nach anderen, digitalen Glücksmomenten, die hinter jenen analogen stehen, die schon erklungen sind«. Eine Konsequenz dessen ist die Intensivierung des Geschehens: »Einzelne Glücksmomente des Stücks« werden mit Mitteln der Elektronik »hingehalten, so dass man sie länger genießen kann, wie ein digitaler Freezeglitch an der Lieblingsstelle – Coitus extensus«, so Ying Wang augenzwinkernd im Vorwort der Partitur. Wo wir wieder beim Titel wären: 528 Hz 8va. 528 Hertz, eine Frequenz auf der Mitte zwischen den Tönen c2 und cis2, gilt gemeinhin als die »Liebesfrequenz«, ihr werden heilende Wirkungen zu gesprochen. Auch das Lied Imagine (1971) von John Lennon wird mit dieser Frequenz in Verbindung gebracht, sowie ebenfalls das Summen der Bienen. Gibt man »528 Hz« in eine Suchmaschine ein, wird man prompt auf Meditations-, Esoterik- und Wellness-Homepages verwiesen. Doch Ying Wang ist weit davon entfernt, Musik zur Entspannung zu kreieren. Sie nimmt die Frequenz 528 Hertz als Metapher und Impuls für Musik, die Humor, Temperament und Glücksgefühle transportieren will. »Euphorische, chaotische Momente finden sich genauso im Stück wie uns warm umspielende Wiegenmelodien«, heißt es im Kommentar in der Partitur. »Wangs Werk braust wie ein positiver Energiesturm vorüber – mit dröhnenden Synthiebässen, quiekendem Blech und treibenden Ryhthmen«, resümierte der Kritiker der Neuen Zeitschrift für Musik nach der Uraufführung in Stuttgart.
Gleich nach den ersten Takten von 528 Hz 8va geben in den zerklüfteten Orchesterlandschaften der Musik rhythmische Impulse den Herzschlag an, bald mit heftigen Ausschlägen. Impulse, die sich beschleunigen und sich in ihrem Beben über die verschiedenen Bereiche im groß besetzten Klangapparat inklusive E-Gitarre, Akkordeon, Klavier und umfangreichem Schlagzeug verteilen. Das Ganze wirkt wie ein zunehmend dringlicheres Pochen des Herzens, wie ein freudiger Schub, der sich im gesamten Körper multipliziert und immer stärker gespürt wird – »ein Aufbranden einer ungeheuren Energie«, wie Ying Wang es im Interview formuliert, »dieses Gefühl, wenn der Frühling kommt, wenn man ihn in der Luft riechen kann und die milderen Temperaturen spürt«.
Bei diesen Frühlingsgefühlen rückt bald das Wort »Liebe« in den Fokus – und tatsächlich erklingt »Love« als Morsezeichen, zunächst im Klavier, dann im Synthesizer, schließlich auch in den Holzbläsern. Die Botschaft der Liebe verbreitet sich im Orchester und setzt weitere Kräfte in diesem Orchesterstück frei. Zwischendurch blitzen kurze Zitate und Anspielungen aus Moderne und Pop auf, teils konkrete teils eher atmosphärische Duftmarken, die alle ihre Spuren in diesem rauschenden Strom dieser emphatischen Feier der Liebe in 528 Hz 8va hinterlassen. Die Quellen, aus denen sich diese kurzen Verweise speisen, reichen von experimentellen Ansätzen bis zu Mainstream-Kitsch – die Botschaft der Liebe spricht jeden Geschmack an. Bei der Integration dieser Vorlagen geht es Ying Wang nicht darum, sie collagenartig deutlich auszustellen und sie in grellem Licht zu applizieren. Stattdessen werden sie im Strudel des Geschehens mitgerissen, eingeschmolzen in den Strom der mannigfaltigen Gesten und Farben.
So treten beispielsweise die impulsiven Orchesterschläge aus dem Vorspiel zu Canción del amor dolido (»Lied vom Liebesschmerz«) aus Manuel de Fallas Ballettmusik El amor brujo (1915–17/1925) wie flüchtige Ornamente kurz auf. Ying Wang ist mit diesen Klängen aufgewachsen, sie liebe das Feuer in den Werken des spanischen Komponisten, sagt sie. In ihrer Kindheit in Shanghai habe ihr Vater, der heute ebenfalls in Berlin lebende Komponist Xilin Wang, Ying Wang diese Musik auf einem Kassettenrekorder vorgespielt. Fallas Canción del amor dolido ist von Flamenco-Elementen geprägt, die Orchesterschläge ahmen das Anschlagen der Flamencogitarre nach. El amor brujo, auf Deutsch »Der Liebeszauber«, endet damit, dass sich die Protagonistin, von einem sie heimsuchenden ehemaligen Liebhaber befreien kann und schließlich offen ist für eine neue Liebe.
In 528 Hz 8va folgen bald im Synthesizer ganz andere Töne: Eine wie beiläufig gespielte Refrain-Phrase des Titelsongs aus dem französischen Teenager-Liebesfilm La Boum, Reality (1980), den der Sänger Richard Sanderson berühmt machte. Wie Flocken verteilen sich Partikel dieses süßlichen Synthesizer-Ohrwurms in den Streichern, die in einen Funkenflug mit den übrigen Instrumenten geraten.
Das bald folgende Solo des Synthesizers sorgt für Kontraste, neue rauschhafte Verhältnisse und Tanzrhythmen, die an Popmusik der 1970er und 1980er Jahre anknüpfen. Überhaupt prägen die Sounds des Synthesizers in vielen Momenten den Gesamtklang von 258 Hz 8va. Das passt zu den nostalgischen Exkursen im Stück. Der eingesetzte Kompakt-Synthesizer Minimoog ist ein Vintage-Instrument aus der analogen Ära elektronischer Klangerzeugung. Ab 1970 produziert, prägte er die Popkultur und damit die Tanzmusik in den Discotheken, wie die Clubs damals hießen, bis weit in die 1980er Jahre. Früh entdeckten auch avancierte Elektronik-Formationen wie die Band Kraftwerk und in Berlin Tangerine Dream sowie Vertreter des Jazz wie Chick Corea den Minimoog für sich.
In Ying Wangs 258 Hz 8va ereignet sich ein weiterer Perspektivwechsel, wenn Anspielungen an die Mikropolyphonie von György Ligetis Orchesterwerk Atmosphères (1961) folgen. Diese Musik von Ligeti wurde einem breiten Publikum durch den Soundtrack von Stanley Kubricks Science-Fiction- Epos 2001: Odyssee im Weltraum (1968) nahegebracht. Im Jahr zuvor war in San Francisco der Summer of Love gefeiert worden. Für weitere Assoziationen und atmosphärische Verdichtungen sorgen auch Stilanleihen beim Avantgarde-Pop der isländischen Sängerin und Komponistin Björk. Inspirationen aus dem Vorspiel vom Song An Echo, a Stain aus dem experimentellen Album Vespertine (2001) wirken atmosphärisch auf das weitere Orchestergeschehen in 258 Hz 8va ein. Später sorgen einige robuste Noise-Anteile aus Björks Stück Declare Independence vom Album Volta (2008) für neue Energieschübe, die Ying Wang mit den geballten Kräften des Orchesters hochpotenziert.
Diese erhitzte Spannungssteigerung führt schließlich zu einem Jungbrunnen – denn auch das vermag die Liebe zu bewirken. Dieser Jungbrunnen findet im Orchester seine Entsprechung in schillernden Kaskaden und Fontänen, vor allem in den Holz- und Blechbläsern. Am Ende wird eine kompakte Love-Parade im Orchester entfacht, aber ohne harten Techno, sondern mit sanfteren Spielarten. In einer launigen Dancefloor-Polka-Version erklingt dabei ein Zitat aus dem Song Lay All Your Love on Me (1980) der schwedischen Popgruppe ABBA, ehe es übermütig in die verzückte Zielgerade geht und sich schließlich die Morsezeichen für »Love« wie akustische Luftballons in die Welt verbreiten. Das Beste: diese Euphorie, diese Temperamentsausbrüche, diese Ekstase– sie sind alle ohne chemische Substanzen zu haben.
Falls die Musik von Ying Wang beim Konzert nicht nur gehört, sondern allmählich auch gespürt wird, liegt dies durchaus in der Absicht der Komponistin: »Ich möchte, dass das ganze Haus schwingt, wie ein Tanzboden eines Clubs, das soll das Publikum auf den Sitzen und in den Füßen spüren«, hat Ying Wang im Interview für Ultraschall Berlin erklärt. Die tiefen Frequenzen – nicht nur 528 Hertz – sollen die Menschen erfassen in diesem energiegeladenen Parcours mit seinen vielfältigen assoziationsreichen Anspielungen. Die Musik von Ying Wang kann unmittelbar ansprechen und bewegen. Überwältigend, provozierend, überraschend und mit humorvollen Volten tritt sie in direkte Kommunikation mit dem Publikum. Übrigens, genau am 22.01.2023, also heute, am Tag des Abschlusskonzerts der diesjährigen Ausgabe von Ultraschall Berlin, wird das chinesische Neujahrsfest gefeiert: 2023 ist das Jahr des Hasen. Es verspricht damit ein Jahr der Hoffnung zu werden, der sozialen Bindungen und …. der Liebe.
Eckhard Weber