»Ich kann nichts wirklich ernst nehmen, auch gerade den Klang eines Orchesters [nicht], den ich auf der einen Seite liebe und andererseits stets fürchte. Wenn ich den großen Orchesterklang erreiche, muss ich ihn sofort gewissermaßen zerstören.« So skeptisch äußerte sich der israelische Komponist Yair Klartag gegenüber dem Musikjournalisten Marco Frei ausgerechnet anlässlich der Uraufführung eines Orchesterstücks, des Streicherstücks Con forza di gravità, durch das Münchener Kammerorchester im Jahr 2013. Klartag, im vergangenen Jahr Gast des Berliner Künstlerprogramms des DAAD, hat ohne Frage eine Neigung zum Widerständigen, manchmal auch Widersprüchlichen. Jedenfalls tut man bisweilen gut daran, die Titel seiner Werke gegen den Strich zu lesen. Nothing to express für Streichquartett und E-Gitarre lässt es keineswegs an Ausdruck mangeln. Fragments of Profound Boredom, bei Ultraschall Berlin vom Ensemble Nikel aufgeführt, setzt sich auf durchaus spannende Weise mit der ›tiefen Langeweile‹ Heideggers auseinander, und das Ensemblewerk There’s no lack of void thematisiert keineswegs die Leere, sondern vielmehr den Informations-Overkill. Klartags erstes Orchesterstück aus dem Jahr 2010 trägt den schönen Titel Background Music for Fundraising Event und ist natürlich genau dieses, also Hintergrundmusik für Spendengalas, am allerwenigsten. Bei Con forza di gravità, Klartags zweitem Orchesterwerk, komponiert im Auftrag des Münchener Kammerorchesters, liegt der Fall anders. Zumindest legt der Titel keine falsche Spur, sondern gibt unmissverständlich Auskunft über die zugrunde liegende Idee und das kompositorische Verfahren. Das Werk sei, so sagt Klartag, »die klangliche Reflektion über den Unterschied zwischen Schwere, Gewicht oder Last einerseits und Masse andererseits«. Dem Komponisten schwebte gewissermaßen ein kompositorisches Pendant zum Action Painting vor, wie es vor allem amerikanische Maler in den 1950er-Jahren praktizierten. »Weil die Farbe und die Leinwand aus nicht geeignetem Material bestehen, bleibt die Farbe nicht an der Leinwand haften, sondern tropft noch während des Malvorgangs auf die Erde. Das Gemälde, das auf diese Weise entsteht, ist eine Kombination aus den Intentionen des Künstlers und den ›natürlichen‹ Auswirkungen der Schwerkraft.« Auf die Musik übertragen, heißt das für Klartag: »Die Schwerkraft dringt in die abstrakte Welt der Klänge ein und wird zur treibenden Kraft des Stücks, die die ursprünglichen kompositorischen Absichten überschattet.« Dieses Wirken der Schwerkraft wird in diesem Werk auf beinahe klangmalerische Weise hörbar gemacht durch mikrotonale Abwärtsglissandi. »Mikrotonalität ist ein Mittel, um gleitend, stufenlos von einem Punkt zum nächsten zu gelangen. Ein Intervallsprung, also ein Schritt zwischen zwei Tönen, erscheint mir manchmal wie ein großes Risiko und hat etwas Brutales für mich.« In diesen Glissandi zerfließen die zuvor sorgsam ausgearbeiteten Motive bis zur Unkenntlichkeit, die »ursprünglichen kompositorischen Absichten« werden nicht nur überschattet, sondern geradezu vernichtet – wodurch das Widerständige auch in dieser Partitur wirksam ist. Und das auch noch in anderer Hinsicht: Con forza di gravità ist geschrieben für ein homogen besetztes Streichorchester. Das ist ungewöhnlich für einen Komponisten, dem nach eigener Aussage jede musikalische Homogenität widerstrebt. »Eine der größten Herausforderungen dieses Genres ist sicherlich die Tradition des Streichorchesters an sich«, so Klartag. Das betrifft zum einen die Homogenität des Klangs, zum anderen aber das Prinzip der Einheitlichkeit, und damit verbunden das Prinzip der Unterordnung. »Es ist schwierig für mich, dass eine Gruppe einem Führer oder auch Stimmführern folgt und genau das Gleiche tut. Deswegen ist das für mich eine Art Kampf mit dieser Tradition. Ich möchte, dass die Hörer bemerken, dass in meinem neuen Stück 21 Menschen vor ihnen spielen und nicht nur ein einheitlicher Klang.«
Rainer Pöllmann