In The Rest is Noise, jenem weit gespannten Streifzug durch die Musik des 20. Jahrhunderts, verfasst vom Musikkritiker des New Yorker, Alex Ross, heißt es über Wolfgang Rihm, dieser habe »keine Scheu, das romantische und expressionistische Erbe der deutschen Musik anzunehmen; zwar präsentiert er meist heftig bewegte, ruhelose musikalische Oberflächen, doch lässt er dabei heftige Emotionen spürbar werden, gönnt sich weit gespannte Melodiebögen und in all seinen Werken auch Anklänge tonaler Harmonien.« Wolfgang Rihm, umfassend belesen, hat sich tatsächlich oft an der Lyrik der Romantik und ihren Bildern und ihren Gefühlswelten zu Musik der unterschiedlichsten Gattungen inspiriert. Immer wieder ist er auch zur Dichtung Friedrich Hölderlins zurückgekehrt.
Für seine Komposition Zu singen hat Wolfgang Rihm 2006 die erste Fassung der Hymne Mnemosyne aus dem Spätwerk Hölderlins verwendet. Darin wird über das Wesen der Erinnerung nachgedacht, über eine Haltung, das Vergangene nachsinnend und reflektierend in die Gegenwart zu integrieren.
Gedenkendes Erinnern wird gegen Vergessen aufgewogen, aber auch die Notwendigkeit, in der Gegenwart zu sein und in die Zukunft zu blicken, statt sich in der Trauer und dem Blick zurück zu verlieren. Wolfgang Rihm hat von dem dreistrophigen Gedicht Friedrich Hölderlins lediglich die erste Strophe für Zu singen herangezogen. Hier wird das aufgezeigte Spannungsfeld der Erinnerung exponiert, noch im Allgemeinen und in diffusen Bildern gehalten. Der Bedeutungsgehalt bleibt frappierend offen für viele Lesarten. Die beiden weiteren Strophen, die konkrete Naturbetrachtung in der zweiten und schließlich den Bezug – wie so oft bei Hölderlin – zur griechischen Mythologie in der dritten Strophe, hier zum Trojanischen Krieg und den gefallenen Kriegern Achilles und Ajax, wurden nicht für die Komposition benutzt. Womöglich wären die Assoziationen für die künstlerische Absicht zu konkret gewesen, und hätten das, was Wolfgang Rihm bei Zu singen in seiner Musik gestalten wollte, auf gänzlich andere Pfade geführt.
Der Komponist hat über musikalische Werke, in denen mit Sprache umgegangen wird, mehrfach bemerkt, dass kein gleichwertiges Verhältnis zwischen Wort und Musik bestehe: Der Klang sei per se »das mächtigere, gefährlichere, darum auch lustvollere Phänomen«. Deshalb müsse er als Komponist »dem Übergewicht des Klangs bei der Verbindung Wort–Musik Rechnung tragen.« In Liedern mit Klavierbeteiligung, oft genug als »Begleitung« missverstanden, kann die Stellung von Text und musikalisch Klingendem bereits äußerst vielschichtig und komplex sein. Bei der Verbindung zwischen Singstimme und einem Melodieinstrument, zumal einem derart vielseitigen und in seiner Ausdruckspalette überaus reich ausgestatten wie der Klarinette, dürften sich die Verhältnisse noch einmal in völlig anderer Art und Weise gestalten. Ein Lied im traditionellen Sinne ist Zu singen sowieso nicht. Die Frage stellt sich hier von Anfang an, wer hier eigentlich singt, respektive wie viele. Sicherlich nicht die Sopranstimme allein. Zu singen gestaltet sich vielmehr als expressives Duo zwischen Sopran und Klarinette, beide Stimmen deuten jeweils auf ihre ureigene Weise verschieden den Text. Während der Sopran emphatisch den Text interpretiert, durchaus mit konkreten Ausdrucksbezügen zu einzelnen Textstellen, etwa gleich zu Beginn bei »aber es haben zu singen« mit zwei großen, verhalten arienhaften Bögen auf den beiden Verben, hat die Klarinette im Zeitverlauf größer disponierte Gesten, etwa großräumige Aufwärtsgänge über zwei Oktaven. Beide Stimmen, Sopran wie Klarinette, befeuern sich gegenseitig in ihren unterschiedlichen Strategien, auf den Text zu reagieren. Das Miteinander gerät zu einem simultanen, innigen Dialog, bei dem beide die Glut aus der Textvorlage auf ihre Weise weitertragen – und auch neu entfachen. Insofern gerät Zu singen nicht zuletzt zu einer leidenschaftlichen Hommage an die Ausdruckskraft musikalischer Gesten – seien sie von der Sopranstimme oder von der Klarinette erzeugt. »… es ereignet sich aber das Wahre« – mit diesen letzten Worten der ersten Strophe von Mnemosyne endet Wolfgang Rihms Zu singen.
Eckhard Weber