Wolfgang Rihm: Überwundene Zeit. Einige Gedichte von Uwe Grüning

(2022) 10‘ – für Tenor und Klavier

[1] Nachmittag
[2] Abend
[3] Überwundene Zeit
[4] Dezember ist‘s
[5] Ahornknospen, entfaltet Euch!
[6] Unzeitige Einsicht

Nachmittag
Ruhig
„Unerbittliches Alter, / empfangen aus einer / segenlos offenen Hand.“

Abend
nicht zu langsam
„ (…) Keiner / nimmt mir mein Recht, / ein Verbannter zu sein.“ 

Überwundene Zeit
Langsam, aber ohne Schwere
„ (…) Die Mühlenflügel / stehen still wie mein Schicksal. / Jeder Spiegel bleibt blicklos. (…) “

Dezember ist‘s
Ruhiger Gang, wie beiläufig
„ (…) ein Herrscher, / der im Bettelkleid kommt, / öffnet die Tore.“

Ahornknospen, entfaltet Euch!
Sostenuto, non troppo lento
„Die Erde / liegt wüst und leer / wie vor der Schöpfung. (…) “

Unzeitige Einsicht
Ruhig, zart bewegt …
„Jetzt erkenne ich dich ganz, / du sinkender Reichtum des Sommers! (…) “

aus:
Uwe Grüning: Bienenkönigin Zeit. Gedichte, Aschersleben (UN ART IG) 2005

Sprache als Anlass für Musik: / der Text wird unterstrichen, / der Text wird durchstrichen, / der Text wird aufgelöst, / Text und Musik werden das eine durch das andere: etwas Neues entsteht im Ineinander. (…)

Ich muss dem Übergewicht des Klangs bei der Verbindung Wort – Musik Rechnung tragen. Das heißt, ich kämpfe gegen Windmühlen, wenn ich versuche einen Text mit Musik zu verbinden in der Überzeugung, dass es auf seinen Informationsgehalt primär ankomme. Dann wäre es besser, ihn unangetastet zu lassen, denn beim musikalischen Arbeiten mit Texten werden diese sehr wohl angetastet, oft zerstört auf einer neuen Ebene des Verstehens. Der fragmentarische Text bringt deshalb eine besondere Eignung mit, musikalisch konfrontiert zu werden. Ist er doch durchlässig und offen, von sich aus beziehungsreich, weil seine Anschlüsse nicht bereits definiert sind wie beim ‚vollendeten‘ Text. Seine zugleich offengelassene Hermetik schließt Musik – die fragmentarischste und emotionalste Kunst – bereits mit ein.“

Wolfgang Rihm: Sprache als Anlass für Musik,
in: ders.: ausgesprochen – Schriften und Gespräche, Bd. 2,
hg. von Ulrich Mosch, Winterthur (Amadeus) 1997, S. 13

Im Erspüren der gedanklichen Polungen von Grünings Lyrik hat Rihm in seiner Musik alles vordergründig Bildhafte weggelassen und sich ganz auf Spannkraft und Farbe der Harmonik konzentriert, während die Singstimme den Ton einer klarsichtigen, aber liebevollen Weisheit findet.

Jan Brachmann: Illusionslos, aber liebevoll. Kissinger Sommer: Rihms Lieder und Brahms‘ Tänze,
in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 08.07.2022, S. 12