Wolfgang Rihms Liederzyklus Rilke: Vier Gedichte, „geschrieben für Christoph Prégardien und Siegfried Mauser in dankbarer Freundschaft“, wurde von den beiden Musikern 2002 in Stuttgart uraufgeführt. Die Texte stammen aus Rainer Maria Rilkes wenig bekanntem lyrischen Werk Aus dem Nachlass des Grafen C. W., das man in gängigen Anthologien des heute vielfach medial vermarkteten, populären Dichters kaum finden dürfte. Entstanden sind die Gedichte ein Jahr vor den ungleich berühmteren Duineser Elegien und Sonette an Orpheus in idyllischer Einsamkeit auf Schloss Berg am Irchel, einem ländlichen Herrensitz im Zürcher Weinland, im Norden des Kantons Zürich, wo Rilke den Winter 1920/21 verbrachte. Die Figur des fiktiven Grafen C. W. als behauptetem Urheber der Gedichte diente als psychologischer Trick, als Selbstüberlistung, womit Rilke versuchte, seine schon chronischen Schreibblockaden zu überwinden. Diese waren nicht zuletzt ausgelöst worden durch Wirrungen und Traumata des Ersten Weltkriegs. Vor allem als Rilke 1916 ein halbes Jahr zum Militärdienst, wenn auch nicht an der Front, eingezogen wurde, brachen alte Wunden aus der Jugendzeit in der Militär-Realschule St. Pölten in Niederösterreich auf, wie er in einem Brief offenbarte. Die für ihn furchtbaren Erfahrungen in den „St. Pöltener Gefängnismauern“, die er „als ein Erschöpfter, körperlich und geistig Missbrauchter“ verlassen hatte, verglich Rilke später mit Szenen aus Fjodor Dostojewskis Erinnerungen aus einem Totenhaus.
Gegenüber der formalen, kompositionstechnischen und dramaturgischen Vielgestaltigkeit der Lieder nach Gedichten von Heiner Müller, fällt bei Rihms Rilke-Liedern gerade die Einheitlichkeit auf. Alle vier haben jeweils rund fünf Minuten Länge Dauer und sind in einem langsamen Tempo komponiert. Sie verlaufen zudem in einem sachten, geradezu abgeklärten Duktus und erweisen sich als erstaunlich klangsinnlich und berührend. Rihm gewährt den Versen Rilkes genügend Raum, um sich in einem gemächlichen Fluss – konzentriert und wohldosiert in der Ausdeutung – zu entfalten.
Ein anschauliches Beispiel dafür ist die Klavierbegleitung im ersten Lied des Zyklus, Neue Sonne, das mit den Worten „Neue Sonne, Gefühl des Ermattens / vermischt mit hingebendem Freuen“ beginnt: Die Bewegung der vollklingenden Akkorde wird zur Betonung einzelner Gedichtstellen angehalten und löst sich kurzfristig in interpretierende Kommentare auf. „Dies überstanden haben, auch das Glück“ heißt es zu Beginn des zweiten Liedes. Darin werden vor allem zwei Stellen mittels einer expressiven Steigerung als emotionale Ausbrüche hervorgehoben, die Einsichten in die menschliche Existenz in der für Rilke so typischen Dialektik liefern: „Gekonnt hats keiner; denn das Leben währt / weils keiner konnte“ und „Weils keiner meistert, bleibt das Leben rein.“
Selbstvorwürfe werden mit klarem Blick in Ich ging erhoben: „Ich ging; ich wars, der das Verhängnis säte, / nun wächst es glücklich auf, verschwenderisch“. In seiner Musik zu diesem Lied hat Rihm bewusst Verzögerungen in die Fortschreitungen des Klavierparts eingebaut, die das Quälende eines mühsam hervorgebrachten Bekenntnisses verstärken. Betörende Klangfülle stattdessen steht am Ende, wo das Persönliche ins Große gewendet wird: „Denn wie das Licht von manchem Sterne lange / im Weltraum geht, bis es uns endlich trifft, / erscheint erst lang nach unserem Untergange / vor unserm Stern seine entstellte Schrift.“
Mit den Worten „Oft in dem Glasdach der verdeckten Beete / erscheint ein andrer Raum als Spiegelung“ beginnt das letzte der vier Rilke-Lieder. Das gemessene und gleichzeitig flexible Pulsieren des Klaviers geht einher mit einer verhaltenen, geradezu vorsichtig schreitenden Gesangsmelodik, die ein fasziniertes Staunen zum Ausdruck bringt. Hier geht die Musik stärker situativ auf den Text ein. Für das Wort „Apfelsine“ ließ sich Rihm sogar zu einer kleinen Koloratur in der Singstimme hinreißen. Ansonsten gibt vor allem das Klavier zwischendurch kurze emotionale Kommentare ab, etwa ein Arpeggio, das in forciert pochende Akkorde umschlägt, oder zarte Gebilde aus Obertonkonstellationen. Doch diese kurzen Klavierzwischenspiele stehen nicht zwischen den Gedichtstrophen, wie man erwarten würde, sondern tauchen mitten in den Versen auf. Rihm markiert auf diese Weise die Sinnabschnitte, die er bei seiner Lesart erkennt. In allen vier Liedern ist das Bemühen spürbar, das Verhältnis zwischen Wort und Musik immer wieder individuell, mit großer Sensibilität auszuhandeln. Wie dies gemacht wird, das entfaltet bei diesen vier ohne Pause aufeinanderfolgenden Liedern einen eigenen Sog und erzeugt den Eindruck einer einzigen Großform.
Eckhard Weber