»›Streichquartett‹ ist für mich ein magisches Wort. Aller Geheimnischarakter von Kunst schwingt darin, klingt an. Intimes und Öffentliches tragen sich aus als Streichquartett, gleichzeitig«, sagte Wolfgang Rihm einmal. Nach eigenem Bekunden schreibt er für sein Leben gern Streichquartette. Dass einer der produktivsten Komponisten unserer Zeit in seinem umfangreichen Werkkatalog auch viele Werke für Streichquartett vorweisen kann, dürfte somit nicht überraschen. Die tatsächliche Anzahl der Kompositionen für die Besetzung ist dann aber doch verblüffend: Jene vier frühen Streichquartett-Entwürfe aus den 60er Jahren nicht eingerechnet, hat Wolfgang Rihm seit seinem offiziell ersten, 1970 entstandenen Werk der Gattung bis heute ganze dreizehn Streichquartette komponiert. Dazu kommen noch weitere neun Einzelsätze für die Besetzung. Solch ein Einzelsatz stellt das jüngste Werk dieser Gruppe, Geste zu Vedova, dar, vom Minguet Quartett im Oktober 2015 uraufgeführt, im Rahmen eines Konzertzyklus der Fondazione Vedova in Venedig. Bei den Kompositionen, die dort präsentiert wurden, ging es darum, die Verbindungen zwischen bildender Kunst und Musik zu untersuchen. Als exemplarischer Ausgangspunkt diente das Werk des venezianischen Malers Emilio Vedova (1919–2006), eines der bekanntesten Vertreter des Informel. Vedova erweiterte die herkömmliche Form des Wandbildes und stellte stattdessen seine Malerei als architektonisches Objekt in den Raum. Dies gelang ihm mit aufklappbaren, bemalten Gestellen aus Holz, die er mit unterschiedlichen Techniken bearbeitete. Die ersten dieser Plurimi entstanden, als Vedova 1964/65 Gast des Berliner Künstlerprogramms des Deutschen Akademischen Austauschdienstes war, unter dem Titel Absurdes Berliner Tagebuch – als Reaktion auf die Teilung der Stadt.
Wolfgang Rihm hat in einem Kommentar zu seinem Streichquartett-Werk Geste zu Vedova eindrucksvoll dargelegt, was ihn persönlich am Schaffen Emilio Vedovas fasziniert – und was dies mit seiner Musik zu tun hat: »Vedovas Werk ist geprägt von kraftvollen Setzungen. In der Erinnerung bleiben vor allem heftig artikulierte Vertikalen – Reste von Schlägen? von Architektur? – schwarze Zeichen in Aufruhr. Mit ähnlichen Gestalten wollte ich musikalisch antworten. Auch die physische Erscheinung Vedovas hatte für mich etwas von einer flammenden Vertikalen. Er schien wie ein schwarzer Blitz in den Boden zu fahren. Oder war er die Spur einer plötzlichen Eruption? So sein Werk: Vibration von Kraft, Energie, Vektor eines eminent bewussten historischen Bewusstseins. Ein gigantisches Reservoir der hochreflektierten Venezianischen Kunst scheint durch Vedovas Sorgfalt und Wildheit zu explodieren: auf der Fläche und über diese hinaus – in den Raum. Die Plurimi rhythmisieren den Raum wie eine gewaltige musikalische Energie, deren Seismogramme er fixiert. Ein bewegtes Ich – ich selbst? – grüßt aus der Ferne mit einer Geste, die nur ein Nachzittern ist.
Musik ist zu vieldeutig, um je die zeichenhafte Kraft eines wirklichen Bildwerks zu erreichen. Dafür aber dringt Musik in uns ein – manchmal wie ein Gift. Und sie erschüttert unsere Grundlagen. Manchmal. Darin jedoch gleicht sie dem Bild, dessen Blick und Anblick wir wirklich standhalten.«
Eckhard Weber