Die Dichtkunst Heiner Müllers hat sich als eine der wichtigsten Inspirationen für Wolfgang Rihms musikalisches Schaffen erwiesen. Davon zeugen seine Musiktheaterstücke Hamletmaschine (Mannheim 1987) und Oedipus (Berlin 1987) sowie die Werkgruppe Klangbeschreibung (1982–1987), die 1989 in Donaueschingen uraufgeführte Komposition Frau / Stimme „für Sopran und Orchester mit Sopran“ (!), die Orchesterlieder 3 späte Gedichte von Heiner Müller für Alt und Orchester, 1998/99 komponiert, und Deutsches Stück mit Hamlet, 1997/98 geschrieben. Ende der Handschrift. 11 späte Gedichte von Heiner Müller für Gesang und Klavier entstand 1999. Dieser Liederzyklus, dem Tenor Christoph Prégardien gewidmet, wurde 2000 in Badenweiler von diesem und dem Pianisten Siegfried Mauser uraufgeführt.
Der Titel Ende der Handschrift deutet bereits die klarsichtige Desillusionierung, schonungslos beobachtete Selbstzweifel und die Beschäftigung mit dem Tod während der letzten Schaffensphase Heiner Müllers an. Er stammt aus einem Gedicht aus Müllers letztem Lebensjahr, 1999. Darin heißt es: „Neuerdings wenn ich etwas aufschreiben will / Einen Satz ein Gedicht eine Weisheit / Sträubt meine Hand sich gegen den Schreibzwang / Dem mein Kopf sie unterwerfen will“. Für die Komposition selbst hat Rihm dieses Gedicht allerdings nicht herangezogen. In den elf Liedern des Zyklus hat Rihm die Texte Müllers sehr sorgsam, wie zerbrechliche Kristallobjekte, behandelt. Die Musik überdeckt die Worte nicht mit Deutung, stattdessen gelingt es tatsächlich, bestimmte Aspekte der Gedichte zu unterstreichen, ohne ihnen ihre Strahlkraft zu rauben und gleichzeitig Musik zu schaffen, die jenseits bloßer Illustrierung ihre eigene Autonomie behauptet. Rihm richtet den Blick auf die Grundidee des jeweiligen Gedichts und versucht dann, die Strukturen des musikalischen Satzes konsequent darauf abzustimmen.
Im ersten Lied des Zyklus, Glückloser Engel 2, wird unter einer verblüffend kantablen Gesangspartie im Klavierpart das Spannungsverhältnis zwischen erstickten Akzenten, verschwindend kurzen Gesten und vollklingend ausgespielten Figuren hergestellt. In Nature morte, das mit den Worten „der mond war noch nicht aufgegangen“, beginnt, erscheinen als ferne Erinnerung rudimentäre Paraphrasen des bekannten Abendliedes („Der Mond ist aufgegangen“) von Matthias Claudius in der Vertonung von Johann Abraham Peter Schulz. Bei Heiner Müllers Gedicht Blaupause, das existenzielle Rastlosigkeit anspricht, gestaltet Rihm einen Kontrast zwischen nervösem Rhythmus und sehnsuchtsvollen Gesten. In Leere Zeit hört man anfangs gleichmäßig tickende Klaviergestalten, fast wie bei einem Uhrwerk, die beim Einsatz der Singstimme durch kurzfristige Beschleunigungen und Dehnungen hintertrieben werden. Der Eindruck eines aus dem Takt geratenen Zeitgefüges stellt sich ein. Das Lied Traumwald arbeitet dagegen mit Kontrasten zwischen hohen und tiefen Registern als Bereiche für Traumidylle und Todesthematik.
Für Müllers aphoristisches Gedicht Im ächten Manne setzt Rihm wirkungsvoll Pausen als einkomponiertes Zögern und skeptischen Kommentar ein. Seine Musikalisierung von Mit der Wiederkehr der Farbe wiederum erinnert an einen dramatisch aufgeladenen, schwärmerischen Choral, in dem der Widerstreit zwischen lukullischem Vollklang und Dissonanzen verhandelt wird, entsprechend der Gegenüberstellung von Auferstehung und Auslöschung im Text. Kontraste bestimmen auch … Und gehe weiter in die Landschaft, hier lotet die musikalische Gestaltung die Gegensätze Bewegung und Stillstand, Ausbruch und Verstummen aus.
Müllers Gedicht Wie einen Schatten versucht, das Selbstverständnis des Künstlers angesichts metaphysischer Versprechungen zu positionieren. Hier unterstreichen bei Rihm harte Zäsuren und Pausen in Singstimme und Klavierbegleitung die Relevanz der Textaussage. Und auch im Lied Drama geht es letztlich um die Frage, was nach dem Tod kommt, hier musikalisch als Trugbild aufgefasst, mit zarten Gebilden im Klavier und einer geradezu schwebenden Gesangstimme. Der Liederzyklus endet mit Geh Ariel, einer Referenz Heiner Müllers an William Shakespeares Der Sturm, die Wolfgang Rihm als dramatische Miniaturszene mit resoluten Gesten gestaltet.
Eckhard Weber