Wolfgang Rihms Günderrode-Zyklus Das Rot hat Christoph Prégardien mit Siegfried Mauser 1991 in Wien zur Uraufführung gebracht. Karoline von Günderrode wurde schon früh als „Sappho der Romantik“ bezeichnet. Die Dichterin, die mit Bettina von Armin und Clemens Brentano befreundet war, verlieh in ihrer Lyrik nicht zuletzt ihrer inneren Zerrissenheit Ausdruck. Bezeichnenderweise galt ihre Dichtung zu ihrer Zeit als „etwas zu kühn und männlich“, wie ein zeitgenössisches Urteil lautete. Als Günderrode im Jahr 1806 im Alter von 26 Jahren ihrem Leben ein Ende setzte, war sie zerrieben zwischen dem Wunsch nach einem selbstbestimmten Leben, den eingeschränkten Optionen der Frauenrollen ihrer Epoche und der unerfüllten Sehnsucht nach einer tragenden Liebesbeziehung. Die Gedichte, die Wolfgang Rihm 1990 für seinen Liederzyklus Das Rot aus dem lyrischen Werk der Dichterin ausgewählt hat, sind so kompromisslose wie eigenwillige Momentaufnahmen innerer Landschaften eines Menschen in emotionalen Grenzsituationen. Rihm, dessen Empfinden nicht nur von Klangvorstellungen und Literatur, sondern auch beträchtlich von der bildenden Kunst geprägt ist, dürften vor allem auch die starken Farbmetaphern in den Versen Günderrodes angesprochen haben – vom „Hochrot“ des ersten Liedes bis zum „Dunkel thauigter Nächte“ im letzten Lied. Die Gedichte haben Wolfgang Rihm dazu inspiriert, den musikalischen Satz in seinem Liederzyklus Das Rot konsequent zu hinterfragen. Die Zweifel und Zerwürfnisse des Ichs in Günderrodes Gedichten schlagen sich damit in der musikalischen Faktur nieder.
Im Lied Hochroth hebt das kurze Vorspiel mit traditioneller Funktionsharmonik an, die aber schon bald verunsichert und gestört wird. Zahlreiche Pausen im Gesangspart führen zum Eindruck eines stockenden Hervorstoßens, als ob sich die Äußerungen abgerungen werden müssten. Sie hinterlassen deutlich den Eindruck einer Gefährdung, einer Fragilität des musikalischen Satzes. Kurze Ausbrüche verstärken dies, genau wie die nahezu wörtliche Wiederholung des Liedes – Versuch obsessiver Beschwörung, weil das Subjekt seiner selbst nicht mehr sicher ist? Die Erklärung für diesen Zustand liefert das folgende Lied „Ist alles stumm und leer“ mit seiner Stimmung tiefer Hoffnungslosigkeit. Hier spiegelt sich die Fragilität des lyrischen Ichs in scharfen Zäsuren im Klavierpart wieder. Erneut wird ein zunächst festgelegtes System aufgebrochen. In diesen Auflösungserscheinungen erweist sich die insistierende rhetorische Frage gegen Ende „(Kann) Untreu so herzlich sein?“ mit hochexpressivem Gesang und hämmerndem Klavierpart als Ausdruck tiefster Verzweiflung.
In Des Knaben Morgengruß machen fahle Klänge von vorneherein deutlich, dass es sich hier um kein idyllisches „Morgenlicht“, wie es im Gedicht heißt, handelt, sondern um die Klage über eine allzu früh Gestorbene: „Denn im Grabe liegt / Ein jung Mägdelein“. Im äußersten Kontrast dazu steht das folgende Lied Des Knaben Abendgruß mit seinen brutal hämmernden Klavierakkorden. Ein wie von Erschrecken gezeichneter, rufartiger Gesang beklagt verlorene Liebe. Mit der Auswahl des folgenden Liedes, An Creuzer, konkretisiert dies Rihm an der Biografie der Karoline von Günderrode. Der Titel des Gedichts spielt auf den Heidelberger Philologen und Mythenforscher Friedrich Creuzer an, der sich nach einer zweijährigen Liebesbeziehung mit Günderrode endgültig wieder seiner Ehefrau zuwandte, was als Auslöser für Günderrodes Suizid betrachtet wird. Die Farbmetapher des abendlichen „Spätroth“ in diesem Gedicht deutet Rihm musikalisch um in eine Totenklage. Diesen Eindruck hinterlassen die wie Glockenklänge wirkenden Klavierakkorde und die absteigenden Linien der Singstimme. Frappierend ist die Gestaltung des letzten Liedes, Liebst du das Dunkel: Hier werden keine Klischees von düsterer Musik bemüht, sondern die angesichts der prekären Situation des lyrischen Ichs Auflösung des musikalischen Gefüges auf die Spitze getrieben: Ein nervöser, manisch angetriebener Rhythmus im Klavierpart dekonstruiert sich mit Stolpern und Straucheln bis zur Aussplitterung der Strukturen.
Eckhard Weber