Vito Žuraj: Stand up

für Orchester (2017/2019) Uraufführung der revidierten Fassung

Das Orchesterwerk Stand up von Vito Žuraj kam März 2017 im Kieler Schloss zur Uraufführung, tags darauf fand die Erstaufführung in der erst zwei Monate vorher eröffneten Elbphilharmonie in Hamburg statt. In beiden Konzerten spielte das NDR Elbphilharmonie Orchester unter der Leitung von Juraj Valčuha. Als Vito Žuraj sein Werk entwickelte, zeichnete sich Ende 2016 der Aufstieg Donald Trumps als Präsident der USA ab und gleichzeitig die Zunahme rechtspopulistischer Tendenzen in Europa. Stand up ist eine künstlerische Antwort darauf. Der englische Titel ist im Sinne von »aufstehen für seine Rechte«, »Widerstand leisten«, »dagegen halten«, »sich wehren«, »sich politisch einmischen« zu verstehen.  Das Themenfeld Machtmissbrauch und der Umgang damit  konkretisiert sich in der Musik zunächst am Ausgangsmaterial und seinen Referenzpunkten, die alle Machtmissbrauch aufzeigen: Gleich zu Beginn von Stand up werden Pizzicato-Schwärme der Streicher kontrastiv gegen Blöcke der tiefen Blechbläserregister gesetzt. Diese Blechbläsereinsätze zitieren die Konturen einer Filmmusik von Bernhard Herrman: Die mit einer Paraphrase des in der Musikgeschichte häufig eingesetzten Dies Irae-Thema beginnenden Klänge aus der Anfangsszene von Citizen Kane von und mit Orson Welles aus dem Jahr 1941. Darin wird die Geschichte von einem machthungrigen Medienmogul, der durch populistische Manipulationen zur Reichtum und Einfluss kommt, erzählt. Bald darauf erscheint in Stand up eine Anverwandlung des markanten Kopfthemas aus Ludwig van Beethovens Konzertouvertüre Coriolan op. 62 aus dem Jahr 1807: Ein langer Notenwert mit nachfolgendem Orchesterschlag. Der Patrizier Gnaeus Marcius Coriolanus, so erzählt es zumindest die Sage, wollte in der Zeit des Ständekampfs während der Frühphase des römischen Reichs mit allen Mitteln die Macht erlangen und setzte zu diesem Zweck die Plebejer massiv unter Druck. Weil er sein Ziel nicht erreichte, bekämpfte er schließlich mit feindlichen Truppen die römische Republik. Als dritte Referenz folgen in Stand up nervöse Streicherbewegungen, deren Impulse sich in den hohen Holzbläsern fortsetzen. Hier handelt es sich um ein Zitat der Konturen aus dem Beginn des dritten Satzes Allegro agitato aus Sergej Prokofjew 1928 entstandener Sinfonie Nr. 3 c-Moll op. 44. Prokofjew hat dieses Material wiederum aus seiner Oper Der feurige Engel genommen, an der er von 1920 bis 1928 arbeitete, die jedoch zu seinen Lebzeiten nicht zur Uraufführung kam. Der feurige Engel spielt in Köln während des Spätmittelalters, handelt von religiös verbrämte sexuelle Obsessionen, Halluzinationen, Aberglaube Alchemie und Exorzismus und zeigt drastisch die Übermacht der Inquisition.

Vito Žuraj entwickelt ausgehend von diesen drei erwähnten musikalischen Referenzpunkten, deren Herkunftswerke Machtmissbrauch in unterschiedlichen Ausprägungen behandeln, ein aufgewühltes Orchestergeschehen, das zu einer Folge von drei ausgedehnten Schlagzeugkadenzen führt. Für Ultraschall Berlin hat Vito Žuraj vor allem diese Solopassagen für Schlagzeug nochmals komplett überarbeitet und neu instrumentiert. Die Absicht war, »noch mehr Biss« ins Schlagzeug zu bringen, so der Komponist, und somit extrem schneidende, aggressive Klänge zu erzielen.  Zu diesem Zweck hat er gemeinsam mit einer ausgewiesenen Expertin, Rumi Ogawa vom Ensemble Modern, die weiteren Möglichkeiten aus der Fülle der Schlaginstrumente erforscht. Das Ergebnis: neben der ursprünglichen Besetzung mit Pauken, Congas, Flexaton, Peitsche, Lotusflöte und Hammer kommen nun etwa Holzratschen in unterschiedlichen Größen hinzu, diverse Bambus-Chimes sowie die aus Korea stammende Reihenklapper Sasara, zudem die durchdringenden Signale von Trillerpfeifen, Mundsirenen und Kazoos. Kompositorisches Upcycling erfahren darüber hinaus ausrangierte CD-Ständer, deren Rippenstruktur als Schraper ungeahnte Qualitäten entfalten. All dies dient dazu, populistische Hetzreden in Form gewaltiger Schlagzeugstürme zu gestalten. Die Reaktionen des Orchesters auf die drei Solokadenzen entsprechen der Art und Weise, wie ein demokratisches Gemeinwesen auf solche Aggressoren reagieren kann. Vito Žuraj hat dies im Interview für Ultraschall Berlin erläutert: »Ich habe mich selbst gefragt, wie ich damit umgehe, wenn ich eine solche Hetzrede höre. Eine mögliche Reaktion ist, darüber zu lachen und zu spotten, eine weitere sich darüber ärgern und eine dritte der Versuch, diese Rede langsam, aber sicher mit Fakten zu übertönen, in der Menge Vernunft dagegen zu mobilisieren.« Tatsächlich entfaltet das Orchester nach dem ersten Schlagzeugsolo Gesten, die an Lachen erinnern, nach dem zweiten wird der gesamte »Ton« aggressiv und nach dem dritten Solo des Schlagzeugs wird es von den übrigen Instrumenten allmählich übertönt, das Orchesterkollektiv drängt sich in den Vordergrund. Gleichzeitig differenziert sich das Orchester im Verlauf des Stücks immer mehr, wird »bunter« in den Instrumentalfarben, bildet somit eine zunehmend größere Vielfalt ab. Am Ende meldet sich das Schlagzeug jedoch erneut solistisch zurück. Wird es das letzte Wort haben?

 

Eckhard Weber © 2019