Wie Michael Pelzel arbeitet auch der italienische Komponist Valerio Sannicandro in seinem achtteiligen Werk Zaubersprüche mit einer Textvorlage – allerdings einer kaum verständlichen: Die Texte sind rituelle Segens- und Zauberformeln in althochdeutscher Sprache. Und ebenso rätselhaft wie die Texte selbst sind auch Inhalte dieser Rituale. Es geht um Beschwörungen gegen den dämonischen Wurm, das Stillen von Blutungen oder auch die Verhinderung von Gelenksteife bei Pferden. »Der besondere Charakter dieser Texte«, so der Komponist, »besteht in ihrer einzigartigen linguistischen Natur: Einerseits klingen die Worte vertraut, andererseits sind sie absolut undurchschaubar. Außerdem fasziniert mich die obskure Kombination von Elementen christlicher Religion und archaischen, geradezu esoterischen Praktiken. Diese Mischung drängte mich dazu, sonderbar abgründige klangliche Situationen zu erfinden.«
Für jedes seiner acht vertonten Rituale sieht Sannicandro eine andere räumliche Disposition der Interpreten vor: Die sechs Sänger nehmen immer wieder andere Positionen ein, wobei sie mitunter weit voneinander entfernt stehen (oder auch sitzen). Statt der konventionell frontalen Aufführungssituation, in der die ausführenden Musiker aus einer Distanz in Richtung des Publikums agieren, ist hier häufig eine kreisförmige Aufstellung der Sänger vorgesehen. Teils weichen auch ihre Blickrichtungen voneinander ab, wodurch akustische Filterungen entstehen, die fürs Publikum entsprechend wahrnehmbar sind: Mal sind einzelne Worte als Direktschall zu hören, mal erscheinen sie eher gedämpft. So kann etwa eine an die Rückwand des Raumes gerichtete Stimme als Echo einer ins Publikum gerichteten Stimme fungieren.
Um den Effekt dieser klangfarblichen Veränderungen zu verstärken, verwenden die Sänger zusätzliche Objekte, mit denen sie den Schall beeinflussen können; darunter Hartplastikzylinder, in die sie hinein singen. Durch Kipp- und Rotationsbewegungen dieser Zylinder mit den Händen beeinflussen sie die Richtung, den Druck und auch das Timbre des Schalls. So sind diese kleinen Hilfsmittel gewissermaßen die Zauberstäbe des Vokalensembles, mit dem es kontinuierlich auf den Effekt der Rituale einwirken kann. »Es soll dabei«, so Sannicandro, »eine möglichst düstere und schaurige musikalische Stimmung aufkommen.«
Leonie Reineke