- Mirage – Fanfare – Ornament
- Hymnos
- Improvisation on a Groove
Mein Klarinettenkonzert ist – nach Solokonzerten für Klavier, Violine, Cello, Sheng sowie einem Doppelkonzert für präpariertes Klavier, Schlagzeug und Ensemble – mein sechstes in dieser Gattung. Wie in den vorangegangenen Instrumentalkonzerten interessiert mich auch hier die traditionelle Idee des Wettstreits zwischen Solist und Orchester eher nicht. Der Klarinettist, dem eine hohe Virtuosität abverlangt wird, ist – von einigen markanten Ausnahmen abgesehen, in denen die Klarinette dem gesamten Orchester gegenübergestellt wird – als „primus inter pares“ Teil des gesamten Klangkörpers.
Der Klarinettenklang bildet den Kern des Stückes; das Orchester spinnt die Impulse der Klarinette weiter, reflektiert und kommentiert sie auf vielfältige Weise. Der Orchesterklang selbst ist unablässigen Verwandlungsprozessen unterworfen. Im Allgemeinen geht es hier – wie auch in meinen anderen Orchesterwerken – um die Schaffung eines virtuellen „Superinstruments“, was insbesondere bei diesem Werk eine Herausforderung war, da der Klarinettenklang sehr spezifisch ist und einer ganz eigenen Sphäre zu entstammen scheint. Der Klang des Symphonieorchesters, dieses wunderbaren Relikts aus dem 19. Jahrhundert, wird durch verschiedene spieltechnische und instrumentatorisch- kombinatorische Mittel verändert. Ein kleines Beispiel ist die Behandlung der Schlagzeuggruppe, welche u. a. durch „Readymades“ wie Angelrollen, einem Waschbrett, Schraubenfedern oder einem mit Essigwasser gefüllten Weinglas klanglich erweitert wird. Die Schaffung neuer Klangfarben ist jedoch kein Selbstzweck, sondern eng mit der Harmonik und formalen Aspekten verzahnt.
Bei der Klarinette begeistern mich die große Bandbreite dynamischer Schattierungen, die Vielfalt ihrer Ausdrucksmöglichkeiten sowie ihre enorme Wendigkeit. Zum Zweck der Ausdruckserweiterung werden auch verschiedene Spezialtechniken vom Klarinettisten verlangt. Von den vielen Facetten der Klarinette, die außerhalb der westlichen Klassik auch im frühen Jazz oder in vielen traditionellen Musikkulturen verschiedener Kontinente eine prominente Rolle spielt, interessieren mich jene, die sich außerhalb einer klassisch ausgewogenen, „kultivierten“ Sphäre zu befinden scheinen. Eine andere idée fixe ist die Vorstellung einer imaginären, halb rituellen Volksmusik, die jedoch keinen Bezug zu einer bestimmten Zeit oder einem bestimmten Ort hat und auf höchst artifizielle Weise umgesetzt wird.
Mein Klarinettenkonzert ist in drei Sätze gegliedert, wobei die Dreisätzigkeit nicht im klassischen Sinne verstanden werden darf. Der erste Satz ist mit 10 Minuten der mit Abstand längste. Er trägt den Titel Mirage – Fanfare – Ornament und basiert auf drei sehr verschiedenen musikalischen Charakteren, die ineinander übergehen: der erste ist flüchtig, geheimnisvoll und schwer fassbar und wurde durch das Phänomen der Pfeifsprachen angeregt; der zweite ist fanfarenartig; der dritte besteht aus Ornamenten. Der zweite Satz, Hymnos, der formal einer Art Passacaglia gleicht, wird durch einen leisen und schlichten Sologesang der Klarinette eröffnet, der immer wieder im Laufe des Satzes auftaucht. Er basiert auf sehr fortgeschrittenen Mehrklängen, die ihm einen zerbrechlichen Charakter verleihen. Der dritte Satz heißt Improvisation on a Groove. Er beginnt attacca und steht mit seinem durchweg lebendigen und agilen Charakter in starkem Gegensatz zu den vorherigen Sätzen. Er besteht aus verschiedenen kleinen Fragmenten und gleicht einem „Patchwork“; Kontinuität bewirkt ein rhythmisches Muster (ein Groove), das den Satz wie ein roter Faden durchzieht.
Die musikalische Sprache ist weder avantgardistisch noch traditionell, noch handelt es sich um eine postmoderne Collage; mir ging es um die Suche neuer harmonischer, klanglicher und rhythmischer Prozesse jenseits von Tonalität und Atonalität.
Unsuk Chin
(Text mit freundlicher Genehmigung des Verlags Boosey & Hawkes)