Der Komponist Jean Barraqué
Ein Leben und Schaffen der Extreme: Jean Barraqué, der bekannte Unbekannte, war zeitlebens ›der Andere‹, der neben dem drei Jahre älteren Pierre Boulez wichtigste Exponent der seriellen Musik in Frankreich, die in den 1950er-Jahren die radikalsten Konsequenzen aus der Wiener atonalen Revolution zog. Nach seinem frühen Tod 1973 geriet Barraqués Werk in Vergessenheit und wurde erst Jahrzehnte später in seiner Eigenständigkeit und Aktualität wiedererkannt: ein inhaltlich gewaltiges Œuvre, das bis vor kurzem nur sieben uraufgeführte, veröffentlichte Werke umfasste: die Sonate pour piano (1950–52), eine Etude für Tonband (1952–53), Séquence für Singstimme und Instrumentalensemble (1950–55), das Concerto für sechs Instrumentengruppen, Klarinette und Vibrafon (1962–68) sowie jene Werke, die aus Barraqués Beschäftigung mit La Mort de Virgile von Hermann Broch hervorgingen.
Sein im März 1956 begonnener umfangreicher Zyklus, dessen Vollendung von Krankheit und Tod verhindert wurde, war auf das Fragmentarische angelegt. Das unaufhörlich Unabgeschlossene, das »inachèvement sans cesse«, wurde zum Programm: »Das Werk wird niemals vollendet werden«, so Barraqué. »Und ich will, dass es unfertig bleibt, dass erst der Tod es vollendet – oder, genauer, unvollendet lässt –, dass sich jedoch danach rund um diesen Entstehungsprozess weitere Werke der unterschiedlichsten Richtungen herausbilden.« Drei stilistisch strenge und aufwändige Werke vertonen Texte aus ›Feuer – Der Abstieg‹, dem zweiten Kapitel von Brochs Roman, in dem der im Sterben liegende Autor der Aeneis der Versuchung widersteht, sein Werk zu verbrennen: … au-delà du hasard für vier Instrumentengruppen und eine Vokalgruppe (1958–59), Chant après chant für sechs Schlagzeuger, Stimme und Klavier (1965–66) und Le temps restitué für Sopran, Chor und Orchester (1956–68). »Da entfaltet sich im Angesicht des Todes die seltsame Eintracht zwischen dem Werk und seiner Zerstörung, zwischen Klang und vollständiger Stille. Sich diesem Moment zu nähern und zu versuchen, ihn zu umschreiben, ist die Aufgabe einer Schöpfung, die bestimmt ist, dem Verfall oder der Asche preisgegeben zu werden«, so Laurent Feneyrou von der Association Jean Barraqué.
Zweifeln und Verzweiflung treibt das künstlerische Schaffen hervor. Die Musik zielt, so Barraqué, auf das Absolute: »Sie ist Drama, sie ist Erschütterung, sie ist Tod. Sie ist ein ausgemachtes Spiel, ein Beben bis zum Selbstmord. Ist die Musik nicht dieser Art, ist sie nicht ein Übertreiben bis an die Grenzen, dann ist sie nichts« Jedes Werk muss sein eigenes Schicksal erfinden, und seine – offene – Form ist nicht auf ein vorgegebenes Modell angewiesen.
Jean Barraqués Schaffen ist gekennzeichnet durch eine hochgradige Radikalität, in der ästhetischen Grundierung wie in ihrer strukturellen Neuartigkeit und ihrer Expressivität. Der größte Teil seines Œuvres, so der Barraqué-Biograph André Hodeir im Jahr 1969, »liegt dicht an der Grenze der Oper (…). Die Heftigkeit des Ausdrucks, die Suche nach einem Zustand höchster Spannung, die auch vor einer gewissen Übertreibung der Effekte nicht zurückscheut, dies alles findet man in seiner Musik gleichzeitig mit einer Poetik der Nacht und des Traumes, in welcher der Stille eine bevorzugte Rolle zukommt.«
Die Momente dieser Radikalität entwickeln sich in Barraqués Werdegang in mehreren Phasen des Umbruchs: Die erste setzt 1948/49 mit der Abkehr von der tonalen Musik und den ersten seriellen Kompositionen ein und wird flankiert durch die Ablösung einer mystisch geprägten Religiosität durch einen überzeugten Atheismus. Die zweite Phase der Neuorientierung beginnt 1956 mit der Arbeit an den Werken, die sich auf den Tod des Vergil beziehen. Michel Foucault hatte Barraqué 1955 mit Brochs Roman bekannt gemacht, eine das Leben und Komponieren umwälzende und neu organisierende Begegnung. Der Vertonung, aber auch textlosen musikalischen Umsetzung dieses literarischen Monuments galt fortan sein kompositorisches Interesse. Neben anderen neuartigen strukturellen Konzeptionen entwickelte Barraqué seine Technik der »sich selbst vermehrenden Reihen« und eine eigene Theorie einer ›forme ouverte‹.
In dieser Phase gingen auch die kompositorischen Wege zwischen Barraqué und Pierre Boulez diametral auseinander. Waren die beiden Bannerträger der seriellen Bewegung in Frankreich zunächst Weggefährten, hervorgegangen aus der Analyseklasse von Olivier Messiaen im Pariser Conservatoire National de Musique, wurden sie später Konkurrenten, Kontrahenten. Sie arbeiteten schon in einem frühen Stadium in eher komplementären Richtungen, nach 1956 wurde ihre Entwicklung endgültig inkompatibel. Barraqué stand auch der deutschen und internationalen seriellen Bewegung kritisch und distanziert gegenüber. Sein Anspruch, einen welthaltigen Sinnzusammenhang im Werk neu zu erschaffen, ließ ihn eine eigenständige Form des Serialismus entwickeln.
Der Beginn eines Umsturzes
Ein 2009 auf dem Dachboden der Pariser Association Jean Barraqué aufgefundenes Gepäckstück, gefüllt mit Skizzen, Manuskripten, Partituren, offenbart einen Blick in die erste Phase der radikalen Umorientierung eines jungen Künstlers am Scheideweg und schließt eine Lücke: Die Existenz vieler dieser »Versuche«, wie der Komponist sie nannte, aus den Jahren 1947 bis 1950 war bekannt, allein die Handschriften waren nicht greifbar. »Ein bisschen von diesem und jenem, womit Annäherungen versucht werden sollten, Einkreisungen…«, so beschrieb Barraqué in einem Interview seine frühen Kompositionen – Klavierstücke, Lieder, zwei Kantaten mit Instrumenten, ein Chorstück a cappella, ein Streichquartett nebst Skizzen und Vorstadien. Der Klavierklang herrscht vor, auch die Verwendung von Texten, von religiösen Themen. Und dann der Umbruch ins Abstrakte. […]
Die Tragweite des 1949 einsetzenden geistigen und musikalischen Umbruchs Jean Barraqués, einer Art Bekehrung vom göttlichen zum musikalischen Absoluten, ist kaum zu überschätzen. Ein Brief vom 1. Dezember 1952 an den befreundeten Komponisten Sylvio Lacharité, beschreibt diesen schmerzhaften Prozess:
»Seit einigen Monaten durchlebe ich eine Hölle, wenn ich die Qualen und Ängste bedenke, die ich erleide. Wir kommen zu einem Punkt der menschlichen Empfindung, wo wir wissen (denn ein ›Ich‹ kann nicht mehr existieren, wir nehmen nur historisch faktische Zustände zur Kenntnis), dass die Geschichte Gottes nur die Geschichte des Vergessens, der Feigheit des Menschen war. Ohne jeden Gott hat das Leben keinen Sinn, und wir verkünden weithin, dass alles absurd ist. Welcher Mensch aber kann, mit Konsequenz, akzeptieren, dass seine Taten keinerlei Sinn haben? Demnach ist bei uns kein Akt, weil er absurd ist, rückgängig zu machen, er ist Ja oder Nein, er enthält den Keim zu seiner eigenen Zerstörung, niemals eine Stabilität, eine Sicherheit auch nur für das Tausendstel einer Sekunde, der Tod ist ebenso dumm wie das Leben. Was tun? Wenn ich sage, dass ich nichts mehr tun kann, so weiß ich, dass das nicht besonders ›schlau‹ ist, aber ich weiß, dass es genau so schlau ist, wie Musik zu komponieren. Selbstmord oder Schöpfung? Jener, von der Feigheit abgesehen, ist so sinnlos wie diese. Und ich, der Schlaue, und all die anderen Künstler, sind wir nicht am Ende die Menschen mit dem höchsten Glauben? Die großen Mystiker unserer Zeit. Und wenn ich dies bejahe, so weiß ich, dass wir keinen Schritt vorangekommen sind.«
Die Prämissen dieser ›Konversion‹: Barraqués Jugend war geprägt vom Katholizismus. Als Schüler der Chorschule von Notre-Dame, die zu der Ecole diocésaine von Paris gehörte, war er eingebunden in den religiösen Kontext. Und noch auf dem Gymnasium, dem Lycée Condorcet, wo er seine vier letzten Schuljahre absolvierte, hatte Barraqué erklärt, Priester werden zu wollen, wie er sich 1969 in einem Interview erinnert: »Wohl wegen meiner sehr frommen Familie und vielleicht einer Faszination für das Mystische. Ich war in einer sehr religiösen Atmosphäre erzogen worden. Ich war gläubig, das ist gewiss, ich war getränkt vom Glauben. Ich bin dann sehr schnell davon abgekommen, und zum Glück.« Zu der Entscheidung gegen den Priesterberuf trug die Musik bei: Die Spannweite zwischen der Faszination durch die quasi religiös aufgenommene Missa solemnis von Beethoven im Herbst 1943 und der zuvor, wahrscheinlich im Winter 1940–41, erlebten Unvollendeten Sinfonie Schuberts reicht vom mystischen Erleben einerseits bis zu dem Drang nach der Erkenntnis ihrer rationalen Prinzipien andererseits. Barraqué war wie besessen: »Ich wollte ›es genauso machen‹, das war alles; ich verstehe es nicht. Ich habe es ja immer gesagt, und ich sage es noch in meinem Alter, ich habe die Musik nie verstanden, ich verstehe noch immer nichts von ihr.« Bei Schubert, so lautet Barraqués Theorie in einem Interview von 1969, gebe es keinerlei »Trennung« zwischen Rhetorik und Ausdruck.
Parallel zum Abschluss seiner Gymnasialzeit studierte Barraqué Theorie und Kompositionstechnik bei Jean Langlais, bevor er 1948 in die Analyseklasse von Messiaen eintrat. Während dieser Periode, von der Barraqué sagte, dass er damals sehr viel allein gearbeitet habe, erwies sich das Buch von René Leibowitz Schoenberg et son école als ausschlaggebend. »Ich habe es, wie man es bei Romanen sagt, ›verschlungen‹«, schrieb Barraqué 1969. Besonders die Zusammenfassung zu Weberns Musik adaptierte er als einen zentralen Aspekt seiner eigenen Ästhetik: »Aus einem Minimum von vorgegebenem Klangmaterial – und mit Beschränkung auf ein Minimum von Raum – eine große Vielfalt von thematischen Figuren ableiten; aber diese Mannigfaltigkeit auch wieder auf eine strenge Einheitlichkeit reduzieren, so dass trotz Kürze und Konzentration dieser Vielfalt die Mannigfaltigkeit und der Reichtum der thematischen Figuren kein Wirrwarr verursachen«, so schrieb Leibowitz, und Barraqué folgerte, dass der Weg zwangsläufig zur Zwölftonmusik führe.
Die Bekehrung vom göttlichen zum musikalischen Absoluten durch die serielle Technik führte Barraqué, wie Laurent Feneyrou in einem Text zu den wieder aufgefundenen Juvenilia kommentiert, zu einer priesterlichen Auffassung seines Schöpfertums, »zu einer unbestechlichen Überwachung des Gewissens und einer innigen Verbindung von Ästhetik und Ethik, unter dem Zeichen des Genies, der Nacht und des Todes, deren erste wichtige, wenn auch noch unbewusste Äußerung, die Violinsonate darstellt«. Aus seiner Auseinandersetzung mit Sören Kierkegaards Traktat über die Verzweiflung, dessen französische Übersetzung bei Gallimard erschien, den Etudes kierkegaardiennes von Jean Wahl und Sartres L’Existentialisme est un humanisme folgte die Hinwendung zum Atheismus. Es gibt »weder Erleichterungen noch Heilmittel; die Verzweiflung wird als tödliche Krankheit bestimmt, die an ihrer eigenen Unmöglichkeit zu sterben verzweifelt, die sowohl die Zerstörung des Ichs als auch deren Unmöglichkeit bezeichnet, als sekundäre Verwüstung«, so Feneyrou. 1949 traf Barraqué »die Wahl einer solchen Verzweiflung und verkörperte diese letzte ästhetische Auffassung des Lebens, dieses Schwanken, bei dem das Ich sich nicht von sich selbst trennen kann, aber ein Exil durchlebt, eine Abwesenheit«.
Musik bedeutete für Barraqué Askese, Seinsform, Erleuchtung: »Ich glaube, dass die Musik einen davor bewahrt, ein – um es kurz mit einem sehr groben Wort zu sagen – Dreckskerl zu sein.«
Marie Luise Maintz
(Text aus dem Programmbuch Ultraschall Berlin 2012)