Es ist vielleicht gar nicht so verwunderlich, dass Lieblingsstücke gerne mal lange Stücke sind. Die Erfahrung beim Schreiben ist intensiver, ich finde, dass ich mir mehr begegne, mehr darauf zurück-geworfen bin, was ich eigentlich mache beim Schreiben, mehr erfüllt, wenn man so will, und ich glaube, dass solche Stücke auch beim Zuhören tiefere Erfahrungen möglich machen. Allerdings sind sie auch – wie ich feststellen musste – eher ungeeignet um öfter gespielt zu werden – ein Grund mehr, dieses Stück auf die Lieblingsstückliste zu nehmen.
Seit einiger Zeit beschäftigt mich ein Werkkomplex, der sich unter dem Stichwort »Wie klingt die Wirklichkeit« zusammenfassen lässt. Die Grundidee dieser Arbeiten ist, die klingende Wirklichkeit als Ausgangspunkt und als akustisches Gegenüber meiner kompositorischen Arbeiten zu benutzen. Dies geschieht einmal durch die Übertragung und Verwandlung von Feldaufnahmen (mit Großstädten, Cafés, Verkehr und Menschen) auf ein Instrumentalensemble, zum anderen durch die formalen Strukturen, die den Wahrnehmungssituationen in realen Klangräumen folgen (wie etwa der orientierenden Wahrnehmung inmitten einer heterogenen Klangumgebung wie einer Stadt).
Nachtstück für Ensemble ist vielleicht das konkreteste Stück dieser Werkreihe, da hier die Aufnahme einer ganzen Nacht vom Lärm des Abends, über die nächtliche Stille bis zum Erwachen der Stadt am Morgen, die in einem Hotel in Seoul gemacht wurde, sowohl die formale als auch die klangliche Basis des Stücks bildet. Dabei steht der Verlauf im Zentrum, der von einem lauten, chaotisch-wilden Abend über einen toten Punkt gegen etwa gegen 4 Uhr morgens, bis zum Erwachen der Stadt führt. Dieser in der Wirklichkeit etwa siebenstündige Verlauf ist auf 40 Minuten skaliert. Sowohl der äußerliche Verlauf aus der Aufnahme, wie der subjektive Verlauf (die Wahrnehmung des kleinsten Geräuschs in der Ruhe der Nacht etwa oder der Schlaf) werden in den formalen Prozess integriert. Auch das Klangmaterial ist aus der Feldaufnahme abgeleitet.
Es geht um Schlaflosigkeit, das Verschwimmen der Wahrnehmung, wenn der Körper müde wird und um das, was das wache, matte und auf sich zurück geworfene Bewusstsein aus den Klängen und Geräuschen macht, die es Umgeben. Es geht um eine Innenwelt, den Kopfraum des zeitlich-klanglichen Erlebens einer Nacht.
Ulrich Kreppein