Toshio Hosokawa verbindet in seiner Musik alte Traditionen Japans, in der er im Verlauf seiner Karriere immer stärker eintauchte, und seine Erfahrungen in der westlich geprägten Musik unserer Zeit. Seine Erkenntnisse über die Kunstauffassung der unterschiedlichen Formen und Gattungen der Musik, der bildenden Kunst, der Kaligrafie, des Theaters und der Literatur Japans fließen in Werke, bei denen die Zeit magisch gedehnt zu sein scheint. Dezente Übergänge, sachte Intensivierungen und ein ruhiger Puls zeichnen seine Werke aus. Damit einher geht ein Ineinanderwirken von Klang und Stille. »Die Kraft des Tons und die Kraft des Schweigens bedingen sich gegenseitig. Ohne Schweigen existiert kein Ton und umgekehrt«, hat Toshio Hosokawa einmal erklärt. Diese Sichtweise ist nicht zuletzt beinflusst von der Pinselführung in der japanischen Kaligrafie und Kunst der Tuschezeichnung (shodo), die der Komponist intensiv studiert hat: Darin nimmt das Weiße des Blatts den gleichen Rang ein wie der gezogene Farbaufstrich der Linie (sen). Denn: »Die sichtbare Linie auf dem Papier ist nur ein Teil der ganzen Bewegung. Was man sieht, wird unterstützt von einer unsichtbaren Welt. Die Leere zwischen den Zeichen eröffnet den Zugang zu dieser anderen Welt«, so Toshio Hosokawa.
Wie in mehreren fernöstlichen Musikkulturen, bestes Beispiel dafür ist auch die koreanische Musik, wird im traditionellen japanischen Musikdenken dem Einzelton eine viel stärkere Bedeutung beigemessen als in westlichen Traditionen. Der Einzelton ist Ereignis eigenen Wertes, nicht bloß ein Baustein in einem größeren Gebilde. Der klingende Kontext richtet sich in der japanischen Auffassung von Musik viel intensiver auf den Einzelton. »Wir hören die einzelnen Töne und nehmen zugleich mit Wertschätzung den Prozess wahr, wie sie geboren werden und vergehen«, und dies sei, so der Komponist, »eine tönend in sich belebte Landschaft des Werdens.«
Derart gestaltete Klangräume bestimmen Toshio Hosokawas Zyklus Three Love Songs für Stimme und Altsaxophon aus dem Jahr 2005. Die japanischen Texte von Three Love Songs stammen aus drei verschiedenen Gedichten von Izumi Shikibu, einer Dichterin, die Ende des 9. Jahrhunderts, somit in der Heian-Zeit, als Hofdame in Japan lebte. Die Heian-Zeit, in der Kunst und Alltag gleichermaßen zunehmend verfeinert wurden, gilt als die klassische Periode der japanischen Literatur. Diese wurde gerade und vor allem von talentierten Hofdamen geprägt. Sie waren sozial angebunden an verschiedene, damals mitunter rivalisierende Herrscherhöfe, die sich in jener Epoche ausbildeten. Die von Toshio Hosokawa ausgewählten Gedichte werden der klassischen japanischen Gattung Waka zugeordnet: kurze, reimlose Fünfzeiler (im japanischen Original sind es kurze sogenannte Einheiten), die ihre Gedanken in konzentrierten Bildern transportieren.
Im ersten Lied Ein dunkler Weg auf ein Gedicht, das Izumi Shikibu als Jugendliche geschrieben haben soll, etwa mit 16 oder 17 Jahren, heißt es: »Seit meiner Kindheit reise ich auf einer dunklen Straße«. Angesichts dessen wird die Bitte an den Mond gerichtet, gnädig den Weg zu beleuchten. Der Text des zweiten Liedes Erinnerung ist mit einem Hilferuf in verzweifelter Lage an einen begehrten Menschen gerichtet: »Meine Krankheit verschlimmert sich, und mein Leben währt nicht mehr lange.« Es wird um ein letztes Treffen gebeten, um diese Erinnerung auf die »andere Seite« mitzunehmen. Im dritten Lied schließlich motiviert die Beobachtung von Glühwürmchen an einem Ufer die Frage: »Ist dies meine Seele, die sich von mir wegstiehlt?« Im dritten Lied kommen Handglocken zum Einsatz. Toshio Hosokawa hat in einem Kommentar dazu erklärt: »Bis zu einem gewissen Maße sollten die Tonhöhen jeder Glocke leicht voneinander abweichen, trotzdem wäre es wünschenswert, dass alle vier fast die gleiche Tonhöhe hätten.« Damit der einzelne Klang sehr differenziert ausgeleuchtet werden kann.
Eckhard Weber