Tona Scherchen-Hsiao: L’Illégitime

(1986)

Ein »extrem nervöses, hypersensibles Wesen, unfähig, echte Wurzeln zu schlagen – eine Wildkatze, die auf dem Planeten Erde ihre Erkundungsgänge tut« – so beschreibt sich die Komponistin Tona Scherchen-Hsiao in einer autobiographischen Skizze. Die »Unfähigkeit, Wurzeln zu schlagen« war ihr wohl in die Wiege gelegt. Die Mutter entstammt der chinesischen Hocharistokratie, die Familie des Vaters Hermann Scherchen kommt ursprünglich aus Litauen, geboren wurde Tona Scherchen-Hsiao in der Schweiz nahe der französischen Grenze. »Noch in jugendlichem Alter kam ich mit meiner Mutter nach China, wo ich durch die chinesische Familie in die Sprache, die Kultur, die Künste des alten China eingeführt wurde; dies fügte meiner Erziehung die traditionelle chinesische Kultur hinzu.«

Die »eurasische Mischung von Herkünften, die französisch-chinesische Doppelkultur« und ausgedehnte »Erkundungsgänge auf dem Planeten Erde« haben auch das kompositorische Schaffen von Tona Scherchen-Hsiao geprägt. Sie ist eine der ersten Komponistinnen, die ernsthaft den Brückenschlag zwischen fernöstlicher Musikkultur und westlicher Avantgarde wagten. Dabei ging es ihr nicht so sehr um eine klangliche Amalgamierung, sondern eher um eine gedankliche, konzeptuelle Verknüpfung dieser beiden so gegensätzlichen Kulturen. »Ihr Orientalismus«, so sagt der Musikwissenschaftler Paul Griffiths, sei »eine Sache zarter Gesten innerhalb ungemessener Zeitfelder, ähnlich wie in der Musik von Takemitsu, mit dem sie die Neigung zur zeitgenössischen französischen Musik teilt«.

In den 1960er Jahren erhielt die 1938 geborene Komponistin Unterricht bei so renommierten Lehrern wie Hans Werner Henze, Olivier Messiaen und György Ligeti. 1968 war sie – gemeinsam mit Cathy Berberian – die erste Frau, die von den Donaueschinger Musiktagen einen Kompositionsauftrag erhielt. Und noch einmal war sie Vorreiterin weiblicher Gleichberechtigung. 1977 wurde sie als erste Musikerin vom Berliner Künstlerprogramm des DAAD eingeladen, gut anderthalb Jahrzehnte nach dem Start des Programms. Ihr Aufenthalt in Berlin scheint allerdings nur kurz und nicht besonders glücklich gewesen zu sein. Und auch seither ist sie vom Berliner Musikleben mit Missachtung gestraft worden. Insofern ist die Entscheidung, zum 20jährigen Bestehen von Ultraschall Berlin einen Blick zurück zu werfen, im Falle von Tona Scherchen-Hsiao besonders gerechtfertigt und auch ästhetisch aufschlussreich.

L’Illégitime für Orchester und Zuspielung entstand 1986 als Auftrag des Saarländischen Rundfunks für das Festival Musik im 20. Jahrhundert. Was Tona Scherchen-Hsiao damals über ihr Werk schrieb, klingt höchst aktuell.

»Es handelt sich beinahe um ›Flashs‹, schnelle, flüchtige Bilder (zu beliebigen Reminiszenzen), wie von einer auditiven Kamera, dem Ohr, aufgenommen. Ein Film rollt ab auf der audiovisuellen Leinwand unseres inneren Ohres; ein Ereignis hat nicht die Zeit, sich mitzuteilen, schon ist die zweite, die dritte Information vorüber… Welt der schnellen Aktualität, der Gewalttätigkeit. Ein Traum versucht sich niederzulassen, verharrt, um Luft zu holen; er wird unterbrochen, immer wieder, schließlich von neuen Flashs und Bildern verschlungen: diese, vom Mikro – einer anderen Klangbild-Kamera – aufgefangen, bleiben absichtlich roh (›schmutzig‹ für den Fachmann) mit ihren Interferenzen und Kreischlauten, die dem Ohr Gewalt antun; auch mit Überraschungen – andere Aktualitäts-Flashs, aus dem Alltag der Großstadt stammend.«

Ein akustisches Großstadt-Panorama, mit rasant aufeinander folgenden Sinneseindrücken, ein virtuell multimedialer Charakter mit dem Ohr als »auditiver Kamera« und dem Mikrofon als weiterer »Klangbild-Kamera« – in diesem Werk wird die Selbstcharakterisierung Tona Scherchen-Hsiaos als »extrem nervöses, hypersensibles Wesen« unmittelbar sinnfällig. Und kann zugleich auch als Beschreibung heutiger Lebenswelten gehört werden.
»Für den schaffenden Künstler ist dies die Vision einer in Klangbildern realisierbaren Kurz-Messung, in Ermangelung einer Film-Kamera; insofern ein Musikwerk, ein Bastard, ungesetzlich

Rainer Pöllmann