Zweifellos sticht als Erstes bei Tomi Räisänens neuem Werk, das er für Trio Catch geschrieben hat, der Titel auf: @ch, ein Neologismus unserer Zeit, ein Wortspiel, ganz nach dem Geschmack des Komponisten. Darin wird das At-Zeichen, das Adresszeichen aus dem E-Mail-Verkehr, mit den letzten beiden Buchstaben ch des Namens von Trio Catch verbunden. Tomi Räisänen sagt dazu: »Titel sind für mich wichtig. Ich erfinde immer erst die Titel.« Und diese sind, wie im Fall von @ch, gleich eine Versuchsanordnung, jeweils ein Hinweis auf die strukturell-dramaturgische Strategie des einzelnen Satzes.
Die vier Satztitel dieses Stücks weisen alle das identische Auslautgraphem »tch« aus, das sich als humorvolle Hommage auf Trio Catch bezieht: Hatch, Match, Mismatch, Scratch. Doch der Titel enthält noch weitere Hinweise. @ch bezieht sich auch auf das Material: die Töne c und h sind die gemeinsamen Töne der vier Skalen, denen das Material des Stücks zugrunde liegt. Mit einem Augenzwinkern fügt Tomi Räisänen im Interview für Ultraschall Berlin noch hinzu: »Der Titel @ch kann auch einfach als ›ach‹ gelesen werden. So kann vielleicht – hoffentlich – jemand im Publikum am Ende der Aufführung sagen: ›Ach, wie wunderschön, Musik!‹«
Alle vier Sätze von @ch sollen ohne Zäsur aufeinanderfolgen, zumeist ist zu Beginn attaca notiert. Tomi Räisänen will einen Fluss der Musik, was typisch für ihn ist. Zudem hat dies mit der Form des Stücks zu tun: Die ersten Takte von Satz I und die letzten Takte von Finalsatz IV sind ähnlich aufgebaut. Auf diese Weise könnte dieses Stück am Ende gleich wieder beginnen und unendlich oft gespielt werden.
Als kurze Einleitung im ersten Satz Hatch erklingt eine Art Tusch, bestehend aus flirrenden Multiphonics in der Klarinette und Tremoli im Cello sowie einem nervösen Rumoren der tiefen Register des Klaviers. Die Musik verschafft sich hier zunächst akustisch Aufmerksamkeit. Strukturell beginnt der erste Satz im sechsten Takt mit kurzen Wendungen aus den erwähnten Tönen c und h. Der Titel Hatch (»Schlüpfen«) folgt der Vorstellung des Schlüpfens aus einem Ei. Allerdings handele es sich dabei wohl keinesfalls um einen Vogel als vielmehr um einen kleinen Dinosaurier oder ein außerirdisches Wesen, meint Tomi Räisänen im Interview. Tatsächlich vermittelt der Klangeindruck ein reiches Innenleben, jedoch gedämpft, gedeckelt, wie in einer Schale verborgen. Zu diesem Zweck werden die Klaviersaiten mit Klebepads präpariert, wie man sie zum Anbringen von Bildern oder Postern an der Wand benutzt. Dieses Dämpfmaterial hat sich bei Musiker*innen durchgesetzt, weil es keine Spuren am Instrument hinterlässt. Die Präparierung wurde an bestimmten Abschnitten vorgenommen, durchgehend im tiefen Register (von A2 bis H1) und nur für den ersten Satz im mittleren Register (von C2 bis h2). Die Klarinette spielt mit Slap-tongues, einer Spielttechnik, bei der mit der Zunge am Rohrblatt ein knallender, perkussiver Effekt erzeugt wird. In diesem Satz Hatch erhält das Ohr bloß eine Ahnung des Geschehens. Die Klänge sind noch nicht in voller Entfaltung zu hören. Wie in einem biologischen Entwicklungsprozess, in dessen Verlauf ein Organismus allmählich ausdifferenziert wird, wachsen auch die musikalischen Strukturen. Disparate Figuren werden miteinander vermittelt und zusammengeführt. Ein sich ständig transformierendes Ostinato des Klaviers in Sechzehntelwerten bestimmt weite Passagen dieses Satzes und zieht die übrigen Instrumente mit in diese treibende Bewegung. Am Ende dieses Prozesses schlüpft die Musik sozusagen aus dem Ei.
Deswegen gerät der zweite Satz Match (»Zusammenpassen«) auch zum Durchbruchsfeld: Die hohen Register des Klaviers, also der Bereich, der nicht durch Präparierung klanglich gedämpft ist, sorgen für volltönendes Spiel und klangliche Brillanz. Glissandi der Klarinette, mitunter auch im Cellopart, Triller, Arpeggien, schnelle Läufe, wendige Umspielungen und Tongirlanden im Klavierpart sorgen für irisierende und funkelnde Klangfarben. Virtuoser Übermut ist hier durchaus beabsichtigt, dies alles im einvernehmlichen Miteinander der drei Instrumente. In der Mitte des Satzes verschmelzen diese sogar zu einem rhythmisch bewegten Unisono. Dieses deutet sich indes schon vorher in Ansätzen an, wenn die drei Instrumente sporadisch bereits »mit dem Unisono flirten«, wie Tomi Räisänen dies im Interview nennt.
Das Gegenteil von diesem perfekt wirkenden Zusammenspiel stellt der der dritte Satz Mismatch (»Ungleichgewicht, Diskrepanz«) dar. Hier grenzen sich die drei Instrumentenstimmen durch Kontraste voneinander ab: Eine Sololinie des Cellos beginnt, eine schelle Bewegung der Klaviers folgt, mit einem hohen Liegeton startet die Klarinette eine eigene Melodiebewegung. Senza misura, molto rubato (»freies Metrum, sehr stark schwankendes Tempo«) lautet die Spielanweisung, was sich auch bald klanglich zeigt: Alle drei Instrumente haben unterschiedliche Metren, es entsteht ein polyrhythmisches Zusammenspiel, praktisch ein Nebeneinander dreier individueller Partien. Dennoch finden sie an bestimmten Stellen auf den gleichen Akzent zusammen. Und zwischendurch ergibt sich sogar ein Kanon, angeführt von der Klarinette und gefolgt von Cello und schließlich Klavier.
Ein exponiertes Solo der Klarinette (die beiden anderen Instrumente bestreiten dagegen nur noch einen Bordun) leitet zum kurzen Finalsatz über: In Scratch (»Kratzen«) dominieren gekörnte und geräuschhafte Klänge, mit unregelmäßigen, sehr dichten Strukturen. Die Klarinette bringt Multiphonics und das Cello mikrotonal reichhaltig schillernde, weiträumige Akkorde. Im Klavier wird diese tonale Erweiterung durch Triller in der linken Hand und dissonante Reibungen in Akkorden der rechten Hand erzeugt. Das harmonische Spektrum wird hier in vielfache Nuancen aufgeraut, gewissermaßen »aufgekratzt«. Die Konsequenz ist die größtmögliche Differenzierung des Klangspektrums im ganzen Werkverlauf. Das Ende – es wurde eingangs schon angesprochen – erinnert wieder an die ersten Takte des Stücks. Das dumpfe Rumoren der tiefen Register des Klaviers kehrt zurück. Das Stück könnte erneut anfangen und in Dauerschleife laufen …
Eckhard Weber