Ein mittlerweile traditionsreiches Ensemble der zeitgenössischen Musik macht sich anlässlich seines 35. Bestehens ein sehr spezielles Geburtstagsgeschenk: Es beleuchtet kritisch die eigene Position. Und begibt sich weit aus der eigenen Komfortzone. Die gesellschaftliche Rolle Neuer Musik wird von Grund auf neu erkundet. Und damit auch das Selbstverständnis des Ensemblespiels. Dabei prägen sich neue Formen der Interaktion zwischen Musiker:innen, Komponierenden und Publikum aus. Grenzen von musikalischem Werk und Autorschaft werden hinterfragt. Am Ende kommt alles ganz anders als ursprünglich geplant. Natürlich eröffnen sich dabei unerwartete Perspektiven, und es zeigen sich zudem neue Seiten in der Identität des Ensembles. Vier Interviews zum Projekt The New Recherche mit dem Artistic Manager des Ensemble Recherche Clemens K. Thomas sowie mit den Komponist:innen Sara Glojnarić, Hannes Seidl und Charles Kwong.
Ensemble Recherche: Making of „The New Recherche“ (2021) für sechs Sprecher:innen und Live-Kameras (Premiere)
Interview-Transkription und -Collage: Clemens K. Thomas
Clemens K. Thomas, als Artistic Manager beim Ensemble Recherche haben Sie das Konzept von The New Recherche gemeinsam mit allen Teilnehmenden entwickelt und durchgeführt. Wie kam es zu diesem Abenteuer?
CT: Als Ensemble sind wir gerade in einer Phase eines Generationswechsels und befinden uns in einem Prozess, bei dem wir uns auch beständig selbst hinterfragen. Ich beobachte außerdem, dass die Neue Musik insgesamt gerade in einer Phase ist, in der eine junge Generation Dinge anders machen möchte als Kolleg:innen vor zehn oder zwanzig Jahren.
An was denken Sie dabei?
CT: Etwa an die Frage, wieviel Instrumentalspiel in der Neuen Musik eine Rolle spielt und auch in gewisser Weise wieviel Virtuosität. Es gibt eine jüngere Generation von Komponist:innen, die diesen Instrumentalbegriff nicht mehr so eng sehen, sondern ganz viel post-instrumental practice nutzen.
Also, wenn sich eine Violinistin beispielsweise neben ihrem Instrument als Schlagzeugerin einbringt oder eine Bühnenaktion performt?
CT: Ja, eine Verbindung ins Performative oder eine Öffnung der Musik, zum Beispiel mit Video oder digitale Inhalte. Das heißt, Neue Musik ist heute vielfältiger als noch vor einigen Jahren. Dann kommt noch hinzu, wie ich es beobachte, dass für die Generation, die jetzt um die Dreißig ist, die Popmusik als Referenzgröße viel wichtiger ist als die Klassik. Der Sound, der hinter den Kompositionen steht, ist in der jüngsten Generation eher von der Popmusik inspiriert. Und dies fordert natürlich Instrumentalensembles wie das Ensemble Recherche heraus. Das hat zur Folge, dass man sich mit bestimmten Fragen auseinandersetzen muss: Was ist Ensemblespiel heute? Wie reagiert ein Ensemble darauf, das instrumentale Kammermusik ohne Dirigent auf höchstem Niveau spielt? Damit verbunden ist auch eine kuratorische Annäherung , dass man heute viel thematischer arbeitet. Es ist auch meine persönliche Hoffnung, dass wir im Neue-Musik-Business dahin kommen sollten, nicht nur Namen zu proklamieren – wir haben die neue Urauführung von XY – , sondern dass es auch um Inhalte gehen sollte. Wenn wir nämlich aus dieser Neue-Musik-Blase herausgehen, sind selbst die in unseren Kreisen sehr bekannten Namen draußen keine „Verkaufsargumente“. Ich glaube, wenn wir Themen setzen, die aktuell gesellschaftlich diskutiert werden, dass wir sehr wohl auch Zielgruppen erreichen, die nicht wissen, wer Komponist XY ist oder wer das Ensemble Recherche ist.
Es geht also auch um gesellschaftliche Relevanz und aktuelle Diskurse. In The New Recherche beleuchten Sie das Thema Gentrifizierung.
CT: Die ursprüngliche Idee war, dass wir uns mit Gentrifizierungsprozessen in verschiedenen Städten beschäftigen. Wir selbst sind ja in Freiburg auch von Mietpreissteigerungen betroffen und gleichzeitig in der Situation, dass wir als Künstler:innen zu einer Aufwertung eines Viertels beitragen können. Mit den Komponist:innen haben wir gezielt verschiedene Perspektiven eingeholt: Hannes Seidl wohnt in Frankfurt und ist eine sehr politische Stimme in der Neuen Musik; Sara Glojnarić lebt in Stuttgart und stammt aus Zagreb, einer Stadt, die sich durch den Tourismus massiv entwickelt hat; Charles Kwong, der in der ostasiatischen Riesenmetropole Hongkong lebt, hat wieder ganz andere Fragen als wir. Für ihn ist ein vor dreißig Jahren errichtetes Gebäude schon alt. Wir haben uns absichtlich Perspektiven von außen ins Boot geholt, die nicht nur eine lokale Freiburger Perspektive haben, sondern die auch verschiedene biografische Hintergründe mitbringen und durch diese Brille Gentrifizierung in ihrer jeweiligen Umgebung anders sehen.
Wie haben Sie das Projekt entwickelt?
CT: Wir wollten einen Entwicklungsprozess haben, bei dem wir auch Zeit haben, uns gemeinsam mit dem Thema zu beschäftigen. Die Komponierenden waren Teil des Kollektivs. Wir haben uns mehrmals in Blöcken währen eines Zeitraums von einem Jahr getroffen. Mit Charles, der in Hongkong war, haben wir Zoom-Konferenzen gemacht. Er kam einmal zu uns nach Freiburg, gegen Ende des Prozesses. Zuerst haben wir uns viel Input geholt: Wir haben uns mit einem Professor für Humangeographie der Universität Freiburg getroffen und haben mit Politiker:innen des Landtags Baden-Württemberg und des Gemeinderats Freiburg gesprochen. Außerdem haben wir in kleineren Gruppen versucht, dieses Thema erst einmal in Freiburg vor Ort zu erkunden und verschiedene Menschen nach ihren Erfahrungen befragt. Jede und jeder von uns hat auch eigene Vorstellungen für die Umsetzung des Projekts geäußert, auch was die Komponierenden einbringen könnten. Und dann haben wir überlegt, wie wir diese Ideen zusammenbringen.
Wie ist es dann weitergegangen? Das erinnert alles an eine Stückentwicklung, wie wir sie aus dem Schauspiel kennen.
CT: Absolut, genau. Wir haben einen Co-Working-Space besucht, eine ehemalige Industriearchitektur, die vor kurzem von hippen Start-Ups besiedelt wurde. Dort waren vor allem Firmen, die im ökologischen Bereich tätig sind. Dies hat uns für die Form der Selbstpräsentation stark inspiriert: Dass man quasi eine bestimmte Marketingsprache hat, die sehr viel verspricht und ganz auf den Markt ausgerichtet ist, „neoliberal“, um einen Kampfbegriff zu gebrauchen. Also verbunden mit einer Form von Selbstoptimierung, auch mit einer Moral nach dem Motto: Wir tun etwas Gutes und verdienen auch noch Geld damit. Nun gab es an diesen Orten davor aber auch schon Kreative, zum Beispiel waren dort Probenräume für Bands. Aber die wurden verdrängt. Unsere ursprüngliche Idee war dann, dass wir in dem Projekt unser Ensemble praktisch in ähnlicher Weise mit einer Selbstdarstellung präsentieren, also uns fiktiv einer bestimmten Verkaufslogik unterwerfen. Wir wollten Gentrifizierung nicht von der Außenperspektive kritisch darstellen, das ist ja leicht, sondern an uns selbst diesen Genrifizierungsprozess exemplarisch zeigen.
Das hat sich dann im Verlauf des Projekts offenbar stark verändert …
CT: Sara Glojnarić brachte bald ihren Plan auf, einen Film zu drehen, eine Mockumentary, eine Mischung aus Fiktion und Dokumentation, eine augenzwinkernde Gratwanderung, auch durchaus provokativ. Die Idee war, in dieser Mockumentary zu erzählen, das Ensemble Recherche gehe jetzt nach 35 Jahren Bestehen in den Osten Deutschlands, nach Zeitz in Sachsen-Anhalt, um die Kultur zu beleben und der Stadt sozusagen etwas Gutes zu tun. Und somit einen Gentrifizierungsprozess voranzutreiben und davon auch zu profitieren. Die provokative Ambivalenz dieses West goes East war uns dabei bewusst. Auch solche Fragen wie: Was wäre ein Ensemble heute, wenn wir keine Angst vor Wirtschaft hätten? Mit unserer Kunst könnten wir ja auch etwas Kommerzielles machen. Und das, was die Start-ups im ökologischen Sektor machen, nämlich Moral und Wirtschaft miteinander verbinden, ebenfalls. Was jetzt schließlich um diese Mockumentary auf der Bühne live passiert, ist aber nicht mehr diese „Verkaufspräsentation“, sondern ein Making-of, bei dem wir den Prozess mit seinen vielen Schwierigkeiten, die es dabei gab, erzählen.
Welche Schwierigkeiten kamen auf?
CT: Kollektive Unstimmigkeiten und schwierige Entscheidungsfindungen. Auch die Frage, was ist die Rolle einer Komponistin/eines Komponisten versus einer Interpretin/eines Interpreten. Wem gehört eigentlich ein Stück? Die ursprüngliche Idee einer ironisch-fiktiven „Verkaufspräsentation“ wurde kollektiv letztlich nicht mitgetragen, weil es, glaube ich, zu nah an der Identität des Ensembles war. Was wir jetzt zeigen, hat am Anfang etwas mit Gentrifizierung zu tun. Aber dann wird der Abend immer wieder aus dem Ruder laufen und auf gewisse Weise sich selbst verlieren. Als Metapher finden wir das schon sehr nahe an der Politik. Da hat man einen Klimagipfel und verabschiedet große Ziele. Und nach und nach werden sie nicht eingehalten oder verschleppt. So ähnlich ist es ja in verschiedenen Bereichen in unserer sehr komplexen Gegenwart.
(Interview: Eckhard Weber)