In The girl who never was wendet sich Bünger der dunklen Seite der Musik zu, der Seite, die »die Menschheit einst wie ein Parasit befiel, der seither von Körper zu Körper springt« und durch die Musik die Macht über uns ergreift. Ausgangspunkt von Büngers the third man ist Carol Creeds gleichnamiger Film aus dem Jahre 1949 und das berühmte, auf der Zither vorgetragene ›Harry Lime‹-Thema. Von dieser Musik aus spielt Bünger immer wieder neue Facetten möglicher Manipulationen durch Musik durch. Musik und Gesang, so Büngers zentrale These, sind des Menschen erste Technologie gewesen, mit deren Hilfe sich die Gefühle und die Bewegungen anderer kontrollieren ließen, lange bevor Wörter und Waffen dies vermochten. Es ist bis heute diejenige Technologie, der wir im Leben als Erstes begegnen, wenn sich der Gesang der Mutter in den Leib hineinarbeitet, um schon dort das ungeborene Kind zu konditionieren.
2008 entdeckten amerikanische Wissenschaftler das als verschollen geltende Dokument der ersten jemals aufgenommen Stimme. Im Jahre 1960 hatte Édouard-Léon Scott de Martinville ein kleines Mädchen aufgenommen, das das französische Wiegenlied Au clair de la lune sang. Schon ein Jahr später konnte nachgewiesen werden, dass die Stimme auf der Aufnahme nicht die eines kleinen Mädchens, sondern die eines erwachsenen Mannes ist. In der französischen Fassung des Films 2001 – A Space Odyssey von Stanley Kubrick singt die künstliche Intelligenz HAL ebendieses französische Wiegenlied. Während er stirbt, vollzieht auch HAL das Glissando des nicht existierenden Mädchens: eine hohe, insistierende Stimme verwandelt sich in eine tiefe, verschlafene und harmlose Stimme. In seiner letzten Lecture-Performance vollzieht Erik Bünger einen virtuosen Gang durch die Geschichte. Das Echo verschiedener Stimmen überbrückt ganze Epochen. So wird die Vergangenheit aus der Gegenwart heraus und die Gegenwart aus der Vergangenheit heraus verändert.
Björn Gottstein