Ein Flügel stürzt aus einigen Metern Höhe auf den Boden. Zersplittert. Auch heute noch – mehr als ein Jahrhundert nach dem Anbruch der Moderne und nach diversen Flügel-Vernichtungsaktionen, nicht zuletzt in der Fluxus-Bewegung – erzeugt ein so gewaltsamer Akt beim Zuschauer Unbehagen und gewissermaßen kulturhistorische Schmerzen. Darf man das? Der Flügelsturz, mit dem Simon Steen-Andersen sein 2014 bei den Donaueschinger Musiktagen uraufgeführtes Klavierkonzert beginnen lässt, sei, so sagt der Komponist, nicht als Provokation gemeint, sondern als Studie über energetische Prozesse. Das ist insofern richtig, als es nicht um die Zerstörung als solche geht, nicht um die symbolische Dekonstruktion abendländisch-bürgerlicher Musiktradition, manifestiert im Konzertflügel. Ganz im Gegenteil. Aus den Trümmern entsteht Neues, das Zerbrochene wird zum vollwertigen Partner des Unversehrten. Und schon bald bildet Nicolas Hodges, der Solist dieses Klavierkonzerts, mit sich selbst ein Klavierduo. Mehr noch: Aus dem (intakten) realen Instrument und dem (zerstörten) virtuellen entstehe, so Steen-Andersen, ein einziges Instrument, ein »Superinstrument mit ganz vielen Zwischentönen«. Und die Klänge dieses Superinstruments wiederum bilden die Grundlage auch für das Geschehen im Orchester. »Das Orchester spielt quasi eine Instrumentation dieser zerbrochenen Klänge.« Das Soloklavier und sein virtuelles Double sind nicht Antagonisten des Orchesters, sondern agieren viel eher als Orchesterklaviere. Die Übergänge sind fließend, mal führt das Schlagzeug im Orchester eine Phrase des Klaviers fort, mal übernimmt das Klavier eine Phrase der Bläser. »Komponieren bedeutet, ein Instrument zu bauen«, hat Helmut Lachenmann einmal geschrieben. Was Lachenmann eher metaphorisch meinte, nimmt Steen-Andersen wörtlich. Die Absicht aber ist die gleiche: Wahrnehmung zu schärfen, ein vorurteilsfreies, von Vorfestlegungen befreites Hören zu ermöglichen. In diesem Fall sei das Bauen eines Instruments, so sagt er, das Herunterfallen, eine »von der Schwerkraft entschiedene Präparation des Klaviers«. So ungewöhnlich das Setting dieses Klavierkonzerts ›für Soloklavier, Sampler, Video und Orchester‹ ist, so ›traditionell‹ wirkt auf den ersten Blick die großformale Anlage, die freilich mit überbordender Fantasie neu definiert wird. Es gibt eine fulminante ›Exposition‹, den Flügelsturz, aus dem sich das gesamte weitere Geschehen ableitet. Verarbeitet wird das durch die Audio- und Videoaufnahme des Sturzes exponierte Material in einer ausgedehnten ›Durchführung‹, die mit einzelnen Tönen beginnt, zögernd und wie suchend, die sich dann zu einem kammermusikalisch transparenten Miteinander von Solist(en) und Orchester entwickelt, um sich immer weiter zu verdichten hin zu einer Kaskade von Fortissimo-Glissandi – und einer geradezu klassisch eingeleiteten ›Kadenz‹, in der die beiden Pianisten (der reale und der virtuelle) ein heiteres Melodienraten veranstalten, mit ebenso witzig wie raffiniert eingeflochtenen Zitaten von Beethoven bis Tschaikowsky. Im letzten Drittel des Werks gewinnen dann die Bilder des Flügelsturzes wieder die Oberhand. Gefilmt wurde dieser Sturz mit einer Hochgeschwindigkeitskamera, möglich wird durch die Superzeitlupe die Dehnung des sekundenkurzen Geschehens auf ein Tempo, das ein genaues Sehen überhaupt erst erlaubt. Und hier entfaltet Simon Steen-Andersen ein virtuoses Spiel. Die einzelnen Teile des auf dem Boden zerborstenen Flügels fangen an zu tanzen. Sie fügen sich zusammen, zu einem Ensemble, sie stieben wieder auseinander, bewegen sich vor und zurück, auf und nieder, in ständig wechselnden Geschwindigkeiten. Es entsteht ein Ballett der (im Wortsinn) ›membra disiecta‹, eine ausgefeilte Choreographie aus Bewegungen und Klängen, zu dem die beiden Pianisten auf der Bühne (der reale und der virtuelle) eine höchst amüsante Film-Musik beisteuern. Die Choreographie des Musikmachens – Simon Steen-Andersen hat sie nicht erfunden. Aber er hat sie zu einer beispiellosen Poesie und Perfektion getrieben. Und immer ist jedes einzelne Element, sei es visuell oder auditiv, verankert in der musikalischen Struktur. Nichts ist aufgesetzt, nichts ist bloß additiv, immer fügen sich Klang und Szene und Bewegung zu einem integrierten musikalischen Ereignis zusammen.
Rainer Pöllmann