Séverine Ballon ist eine der innovativsten und kreativsten Cellistinnen unserer Zeit. Sie tritt nicht nur als Virtuosin auf ihrem Instrument hervor, sondern hat auch eine unbändige Neugierde, um das Klangspektrum des Cellos auszuweiten und experimentierfreudig die Spieltechniken weiterzuentwickeln. Die Musikerin hat zahlreiche zeitgenössische Kompositionen zur Uraufführung gebracht, darunter Solowerke sowie Stücke für Cello mit Elektronik von so unterschiedlichen Komponist*innen wie Franck Bedrossian, Chaya Czernowin, Evan Gardner, Clara Iannotta, Mauro Lanza, Liza Lim, Timothy McCormack, Roque Rivas und Rebecca Saunders. Zudem umfasst das Repertoire von Séverine Ballon viele bedeutende Werke aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, von Georges Aperghis bis Iannis Xenakis und Bernd Alois Zimmermann.
Gleichzeitig tritt die Séverine Ballon immer wieder als inspirierte Improvisatorin und als Komponistin hervor. Ihre Werke spiegeln ihre vielfältigen Erkundungen auf und mit dem Cello wider und zeigen damit eindrucksvoll den aktuellen Stand, was auf dem Instrument heute spieltechnisch möglich ist.
Ihr neues Solostück für Violoncello Novembre 2020, das Séverine Ballon für die Uraufführung bei Ultraschall Berlin 2021 geschrieben hat, reflektiert ihre persönliche Auseinandersetzung mit der herausfordernden Zeit der Pandemie: die mit den Maßnahmen zur Eindämmung von Covid-19 verbundene starke Einschränkung des öffentlichen Lebens, die drastische Minimierung sozialer Kontakte und das nahezu flächendeckende Herunterfahren der Kultureinrichtungen, mit geschlossenen Konzerthäusern, Theatern, Museen und Kinos. Séverine Ballon hat zu ihrem Werk Novembre 2020 einen Kommentar verfasst, der erläutert, wie es mit dem privaten Erleben des zweiten Lockdown zusammenhängt. Die Maßnahmen, die am 28. Oktober 2020 in Séverine Ballons Heimat Frankreich ausgerufen wurden, fielen aufgrund höherer Fallzahlen strenger aus als in Deutschland.
Im Vorwort zur Partitur von Novembre 2020 schreibt Séverine Ballon: »November 2020, / für viele von uns wird dieses Datum ganz eigene Erinnerungen hervorrufen, völlig ungewohnte und sehr eindringliche, die mit dem zweiten Lockdown verbunden sind. / Ein Stück, geschrieben für sich selbst, wie ein Tagebuch, / ein Werk umso notwendiger in einer Welt, die stillsteht und auseinanderbricht, / ein täglicher Weg, rhythmisiert von ausgedehnten Spaziergängen, um das Eingeschlossensein zu unterbrechen.« Die Künstlerin verbrachte jene Wochen in ihrer Pariser Wohnung. Wie die meisten kreativen Menschen in den darstellenden Künsten traf die Isolation sie hart, praktisch sämtliche Aufführungen fielen weg. Die Kommunikation mit dem Publikum, ein wesentlicher Impuls für die künstlerische Gestaltung, für die Konzentration und produktive Anspannung, brach plötzlich weg. Was Trost und Ablenkung verschaffte, waren die erwähnten Spaziergänge durch die nunmehr ungewohnt leere Stadt Paris, die mit neuen Augen wiederentdeckt wurde: »Diese Spaziergänge haben meinem Tag einen Rhythmus gegeben, schnelles Gehen, die Freude außer Atem zu kommen«, erzählt Séverine Ballon im Interview für Ultraschall Berlin. Fühlte sie sich wie viele Menschen während des ersten Lockdowns im Frühling zunächst wie plötzlich und mit Wucht ausgebremst, konnte sie im November wieder kreativ arbeiten, wie sie erklärt: »Innerlich auf gewisse Weise vorbereitet, funktionierte die musikalische Imagination wieder, ich habe mich konzentriert darauf eingelassen und viel komponiert.« Novembre 2020 sei »inspiriert von den Spaziergängen, ihrem Rhythmus, dem Bedürfnis das Herz schnell schlagen zu spüren.«
Séverine Ballon hat in ihrem Stück eine erdenthobene, nahezu unaufhörlich schwebende Musik geschaffen, die in ihrem Spannungsbogen fesselt und in dieser Ausnahmesituation, in der wir uns befinden, unmittelbar berührt, auch vielen aus der Seele sprechen dürfte. Novembre 2020 beginnt als getragene Folge von Doppelgriffen in großen Intervallen, zunächst Undezimen, im tiefen Register. Diese akkordischen Klänge werden mit dem Bogen jeweils abwechselnd zunächst in der Nähe des Griffbretts gestrichen, was warm getönte Klänge erzeugt, und dann in der Nähe des Stegs, was wiederum obertonreiche, grell gefärbte Nuancen im Klang hervorhebt. Das Ergebnis dieser so erzeugten Akkordfolge ist ein pulsierendes, schwankendes Klangfeld, flottierend und in gewisser Weise körperlos. Diese Fortschreitung erlebt Unterbrechungen durch das Auftreten gekörnter Texturen, mikrotonaler Auffächerungen, auch in Form rhythmischer Beschleunigungen, durch schleifende Glissandi und metallisch anmutende Klangnuancen. In der Mitte des Stücks werden die Klänge im Gestus resoluter und aggressiver, einhergehend mit einer Steigerung der Dynamik. Nach diesem Ausbruch lösen sich die regelmäßig pulsierenden Strukturen auf in ein vermeintlich statisches Klangfeld, das jedoch in seinem Obertonspektrum subtil bewegt ist. Wenn daraufhin wieder ein Pulsieren einsetzt, ist nichts mehr wie zu Beginn des Stücks: der Rhythmus gerät nun unregelmäßig, die Klänge haben sich verändert. Zwischendurch setzt die Bewegung aus. Séverine Ballon sagt über die musikalischen Verläufe in Novembre 2020, dies sei ein Stück, »das außer Atem gerät und sich allmählich erschöpft, sich vergräbt. Doch selbst in der Verlangsamung bleibt etwas von der Atemlosigkeit.« Diese Musik zu schreiben sei ihr ein großes Bedürfnis gewesen, »um den inneren Weg in diesen merkwürdigen Zeiten weiterzuverfolgen«.
Eckhard Weber