Wenn man heute für Orchester schreibt, besteht die größte Herausforderung darin, die Geschlossenheit des Werkes, die Gravitation der ganzen Orchestertradition und die Normalität einer Konzertsituation mit der Offenheit des formalen und kompositorischen Denkens zu vereinbaren. Ich habe in dieser Arbeit versucht, diese Ambivalenz von Offenem und Geschlossenem auf die Syntax-Ebene zu übertragen.
Die Form wird tatsächlich wie die Episodenstruktur einer TV-Serie gestaltet (die Zahl 18 ist auch als Hommage an die Anzahl der Folgen der dritten Twin-Peaks-Staffel von David Lynch und Mark Frost gemeint). So wird das Ganze aus kleineren oder größeren Fragmenten zusammengebaut, jedes mit einem variierenden Charakter und einem anderen instrumentalen Schwerpunkt. Es gibt im Stück auch eine eher für den Film als für die Musik typische Idee: die wörtliche Wiederholung einer Szene, gedreht aus einer anderen Perspektive. Ein Streicher-Kanon wird zweimal am Anfang und Ende des Stücks wiederholt, aber beim zweiten Durchlauf mit einem völlig anderen Material überlagert. Die Coda des Stücks ist wie eine sich langsam erweiternde Schleife aufgebaut, deren Beginn immer ein bisschen verschoben wird. Die voneinander unabhängigen Episoden setzten sich zu einem Kontinuum zusammen. Zugleich gibt es in jeder Episode eine Menge parallel verlaufender Prozesse; musikalische Subjekte wirken als wiederkehrende Figuren und Nebenfiguren und ergeben zusammen eine Polyphonie der Ereignisse, aus der ein komplexes dramaturgisches Geflecht entsteht.
Ein weiterer Moment der Öffnung, der Infragestellung der geschlossenen Form besteht in zwei Zuspielen mit eher zufällig ausgewählten Stadtklängen (es müssen stets die Klänge der Stadt sein, in der das Stück aufgeführt wird). Einer der größten Theatereindrücke meiner Kindheit war die Jury-Ljubimow-Inszenierung von Anton Tschechows Drama ›Drei Schwestern‹, während derer die Theaterwand irgendwann zur Seite fuhr und den Blick auf die Straße öffnete. Dieses Gefühl von plötzlicher Öffnung, von einem jähen Perspektivenwechsel habe ich an zwei Stellen versucht, mit Hilfe von Straßenklängen zu realisieren. Die Musik – beim ersten Zuspiel eine Kadenz für Klavier, Trompete und Saxophon – steht plötzlich nicht mehr im Mittelpunkt, sondern sie muss sich gegen das Chaos der Stadtgeräusche durchsetzen. Dabei bekommt sie etwas Nebensächliches, wird zur Straßenmusik. Zu gleichen Zeit werden die Stadtgeräusche an mehreren Stellen im Orchesterklang imitiert, die langsame Glissandi der Streicher erinnern vielleicht an vorbeifahrende Autos …
Es gibt sogar einen ganzen Chor von Kazoos: Dieses profane Instrument der Fußballfans wird am Ende des Stücks in den hochdifferenzierten Orchesterklang als eine weitere Stadt-Stimme eingebunden. Am Ende des Stücks konstituieren die Straßenklänge eine Atmosphäre, in dem sich die Musik auflöst. So hebt sich die Hierarchie zwischen Kunstmusik und chaotisch klingender Umwelt langsam auf.
Sergej Newski