Die aus Oldenburg stammende, heute in Berlin lebende Komponistin Sarah Nemtsov überrascht in ihren Werken immer wieder mit ungewöhnlichen Besetzungen, ingeniösen Konzepten und überraschenden Strukturzusammenhängen mit ebensolchen Klangresultaten. In ihrer kontrastreichen Musiksprache stehen resolute, harte Gesten oft zarten, verinnerlichten Gebilden gegenüber. Sarah Nemtsovs Musik ist vielfach geprägt von ihrer Auseinandersetzung mit Literatur, von Walter Benjamin bis Paul Celan und von Edmond Jabès bis Emily Dickinson. Doch auch bildende Kunst und theatrale Einflüsse sind bestimmend in ihren Werken. Früh, im Alter von acht Jahren, hat sich Sarah Nemtsov der Komposition zugewandt, mit vierzehn Jahren begann sie das Oboenspiel. Beide Fächer studierte sie später an der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover und an der Universität der Künste Berlin.
Sarah Nemtsovs eigene praktische Erfahrungen mit der Oboe dürften hilfreich gewesen sein bei ihrer Duo-Komposition für Schalmei und Akkordeon Briefe – Heloisa, wenngleich es zwischen den beiden Doppelrohrblattinstrumenten Schalmei und Oboe naturgemäß viele spieltechnische Unterschiede gibt. Briefe – Heloisa entstand als Auftragswerk für das Duo Mixtura und wurde von diesem 2012 uraufgeführt. Mixtura spielte das Werk auch für das CD-Projekt ›Archipel Machaut‹ (2013) ein, das zeitgenössische Musik dem Ars-Nova-Komponisten Guillaume de Machaut (um 1300–1377) gegenüberstellte. Mit dessen Schaffen hat sich Sarah Nemtsov bereits im Zusammenhang mit ihrer Komposition Hoqueti für sechs Solo-Stimmen mit Zusatzinstrumenten beschäftigt. Bei Machauts Motetten habe sie vor allem die »klingende Freiheit und Kühnheit, die Vitalität« im Stimmsatz fasziniert, sagte Sarah Nemtsov.
In ihrem Duo für Schalmei und Akkordeon Briefe – Heloisa nahm die Komponistin dagegen einen »Schleier der Musik von Machaut« auf. Darin reflektiert das Akkordeon zuweilen den ruhigen, harmonischen Fluss der Vokalwerke Machauts. Die Schalmei wiederum, deren Spiel bei Sarah Nemtsov mitunter sogar an Jazz-Melodik erinnert, deutet die Stimmverläufe im Akkordeon höchst expressiv aus und setzt markante Kontraste. Angereichert wird das instrumentale Spiel mit weiteren Klängen: Gesang und Summen der Musikerinnen, perkussive Aktionen und geräuschhafte Klänge. So spielt das Zerreißen von Papier etwa auch klanglich eine Rolle. Auf diese Weise wird zudem die performative Seite des Musikmachens ausgeweitet. Von Anfang an sei Briefe – Heloisa als Modul-Komposition für Duo konzipiert, die auch als Solo funktioniere, betont Katharina Bäuml vom Duo Mixtura. Briefe – Heloisa behandelt die Themen Zweisamkeit und Einsamkeit, die beiden Duopartner sind klanglich miteinander verwoben, stehen musikalisch aber auch unabhängig voneinander.
Das Stück ist eingebettet in Sarah Nemtsovs lose Werkgruppe Briefe, die verschiedene Kammermusikbesetzungen umfasst. Briefe – Heloisa wurde inspiriert vom überlieferten Briefwechsel zwischen zwei Klerikern aus dem Mittelalter, der Äbtissin Heloisa und dem Theologen und Mönch Petrus Abaelardus, wie die in der Epoche gebräuchlichen latinisierten Formen ihrer Namen lauteten.
Héloïse (1095–1164) und Pierre Abélard (1079–1142) waren zwei Menschen, die in den engen Spielräumen einer Zeit, in der nahezu sämtliche Lebensbereiche der Gesellschaft von der Religion durchdrungen waren, eine verblüffende geistige Freiheit und Unabhängigkeit zeigten, auch wenn sie dafür große Widrigkeiten zu erleiden hatten. Die in einem Nonnenkonvent aufgewachsene Héloïse lernte als junge Frau den älteren Pierre Abélard kennen, bald schon entwickelte sich eine heimliche Liebesbeziehung. Als Héloïse einen Sohn gebar, wurde eine – ebenfalls heimliche – Ehe arrangiert. Jahrzehnte sollten Héloïse und Abélard getrennt sein, beide lebten in verschiedenen französischen Klöstern, Héloïse stieg zur Priorin, später zur Äbtissin auf. Das voneinander getrennte Paar hielt in einer umfangreichen Korrespondenz Kontakt zueinander. In den überlieferten Briefen tauschen sie sich über philosophische Probleme, Glaubensfragen und ihre persönlichen Gefühle aus, in einer unvermuteten Offenheit und enorm reflektiert. So bekennt Héloïse in einem ihrer Briefe an Abélard hinsichtlich ihrer Liebesbeziehung: »Ich sollte über die Sünden klagen, die ich begangen habe, und seufze jenen nach, die ich nicht mehr begehen kann.«
Eckhard Weber