für Streichquartett mit Verstärkung und Effekten ad libitum (2018)
Sarah Nemtsovs Stück weggeschliffen ist ein Auftragswerk des Nomos Quartett, das die Komposition im April 2018 in Hannover zur Uraufführung brachte. Aufgabenstellung für das Stück war die Auseinandersetzung mit Wolfgang Amadeus Mozarts berühmtem »Dissonanzenquartett« C-Dur KV 465. Ein Zitat daraus verbirgt sich in der Mitte von weggeschliffen, im Krebsgang, also rückwärts, hörend nur schwer zu erkennen. Ansonsten ist die Komposition ein sehr individueller Umgang mit dem musikalischen Phänomen der Dissonanz: Jeweils eine Saite eines jeden Streichinstruments wird in Skordatur, also umgestimmt, gespielt, was zusammen mit unterschiedlichen Spieltechniken Klangqualitäten jenseits der herkömmlichen Streichquartettpraxis ergibt. Eine elektronische Verstärkung ist »ad libitum« angezeigt, jedoch keine Pflicht. Fehlt sie, verhalte es sich »etwa wie eine Zeichnung (Vorzeichnung, die auch ihren eigenen Wert hat) zum Ölgemälde«, so ein Partiturvermerk. Denn die Verstärkung steht in Verbindung mit der bewusst dissonant verschobenen Klanglichkeit dieses Stücks: An besonderen Stellen wird nicht mit dem Bogen gespielt, sondern mit besonderer Präparation, mit einem Holzstab oder mit einer dicken Stricknadel, die ungleichmäßig mit einem Nylonfaden umwickelt sind. Das Ziel: »ein heller perforierter, leicht unberechenbarer Klang«, wie es in der Partitur heißt. »Wenn dies verstärkt wird, klingt das einfach reichhaltiger. Es ist ein bisschen wie unter dem Mikroskop, dass man das anders wahrnehmen kann«, hat Sarah Nemtsov im Interview für Ultraschall Berlin erläutert. Überdies kommen – gegen Ende des Stücks – analoge Effektgeräte zum Einsatz, etwa für Hall und Verzerrung, um akustisch plötzlich einen völlig neuen Raum zu kreieren.
Formal und strukturell ist das Stück nach den fünf ersten Buchstaben des hebräischen Alphabets gestaltet. Während Sarah Nemtsov an weggeschliffen arbeitete, war sie als Gastdozentin am Music Department der University of Haifa eingeladen. Der Aufenthalt in Israel inspirierte sie, sich musikalisch mit den kaballistischen Bedeutungen des hebräischen Alphabets zu beschäftigen – als zusätzliche Aufgabenstellung. Die fünf Abschnitte von weggeschliffen sind den fünf ersten Buchstaben zugeordnet: So verbindet sich Aleph mit der Assoziation des Anfangs, der Schöpfung, der biblischen Figur Adam und des Schöpfergotts. Beth klingt wie Baith, hebräisch für »Haus«. Der Buchstabe Gimel ähnelt dem Begriff Gamal für »Kamel«, hier hat Sarah Nemtsov versucht, »erdige« Klänge zu finden. Beim Buchstaben Daleth ergibt sich die Assoziation Delet (»Tür«). Im Schlussteil mit dem Buchstaben He (»Atem«) spielt die Bedeutung des Atems eine wichtige Rolle, die Instrumente gehen in ein luftigeres Register. Als Sinnspruch steht am Anfang der Partitur von weggeschliffen ein Zitat aus dem Gedichtzyklus Niemandsrose von Paul Celan: »Schwerer werden. Leichter sein.«
Eckhard Weber