Sara Glojnarić, Sie haben für das Projekt The New Recherche eine rund zwanzigminütige Video-Mockumentary mit zwei Mitgliedern des Ensemble Recherche, der Violinistin Melise Mellinger und dem Schlagzeuger Christian Diestein, in den Hauptrollen gedreht. Wir kennen Sie in der zeitgenösisschen Musikszene als Komponistin, wie kam es zur Idee, bei diesem Projekt einen Film beizusteuern?
Sara Glojnarić: Bei Gentrifizierung, dem Thema des Projekts, dachte ich sofort an ein visuelles Medium. Die Verwendung eines visuellen Mediums, in diesem Fall das Format einer Mockumentary, erschien mir passender als die Verwendung rein auditiver Mittel, um über das Thema nachzudenken.
Für das Thema haben Sie als konkretes Beispiel die Stadt Zeitz in Sachsen-Anhalt in den Fokus genommen.
SG: Ich habe Zeitz kennengelernt, weil die Familie meiner Partnerin dort wohnt. Es ist eine der „Verliererstädte“ der ehemaligen DDR, mit vielen leerstehenden, verlassenen Gebäuden, die früher für industrielle Zwecke genutzt wurden, wie die alte Schokoladenfabrik, die Nudelfabrik und so weiter. Diese Art von Immobilien ist in größeren Städten normalerweise eine Art goldene Gans, wo ein Kulturzentrum, ein Co-Working-Space oder eine Third Wave Specialty Coffee-Bar entstehen. Das ist in Zeitz nicht der Fall, zumindest noch nicht. Bei der Vorbereitung für das Stück habe ich mit Politiker:innen und Künstler:innen aus Zeitz gesprochen und herausgefunden, dass in letzter Zeit viel investiert wurde. Denn in zehn Jahren wird die Deutsche Bahn eine direkte S-Bahn-Linie von Leipzig und Gera ausbauen, die Zeitz zu einer Art erweiterter Leipziger Vorstadt macht. Mit anderen Worten: Ich fand es unglaublich spannend, die möglichen Anfänge des Gentrifizierungsprozesses in einer kleinen ostdeutschen Stadt zu beobachten.
Wie kommt diese Situation in Zeitz mit dem Ensemble Recherche zusammen?
SG: Das Ensemble Recherche erfindet seine eigene Geschichte neu, indem es imaginäre Geschichten aus der Sicht der beiden ältesten Mitglieder des Ensembles, Melise Mellinger und Christian Dierstein, erzählt. Die beiden Protagonist:innen bringen die Vergangenheit und Zukunft des Ensembles mit der Stadt Zeitz in Verbindung, die nach dem Untergang der DDR einen bitteren Deindustrialisierungsprozess durchlaufen hat und sich nun am anderen Ende dieser Schleife befindet – in der möglichen ersten Phase der Gentrifizierung. Die Geschichten von Melise Mellinger und Christian Dierstein ermöglichen eine künstlerische Erkundung der inneren Mechanismen der Gentrifizierung, des westlichen Blicks, der absoluten utopischen Szenarien und der von Künstlern geführten/gesteuerten Gentrifizierung durch umgeschriebene Erzählungen und Zukunftsprojektionen.
Ihr Film ist eine Mockumentary, also ein Genre, das Fiktion mit den Mitteln einer Dokumentation transportiert. Können Sie etwas über den Inhalt verraten?
SG: Das Drehbuch erzählt von der utopischen, fast romantischen Möglichkeit eines radikalen Wandels durch den Einsatz von kulturellem Kapital. Die Geschichte wird aus der Perspektive des Januars 2026 erzählt und untersucht, was passieren könnte, wenn kulturelles Kapital auf eine holistische Art und Weise in tatsächliches politisches Kapital umgewandelt wird. Dabei wird eine mögliche Zukunft ins Auge gefasst, in der die Stadt Zeitz einen langsamen Prozess der nicht nur von Künstlern generierten, sondern auch von Künstlern geleiteten Gentrifizierung durchläuft, mit dem Ziel, eine Stadt, eine Region wiederzubeleben, während gleichzeitig Strategien entwickelt werden, um die Abwanderung der Einheimischen zu verhindern. Es werden leicht utopische Szenarien vorgestellt, die zum Teil auf der riesigen Menge an realen Daten beruhen, die ich in Vorbereitung auf dieses Stück gesammelt habe, aber auch auf einigen imaginären Erzählungen, die nicht ganz unwahrscheinlich sind. Die Geschichte wird von Melise Mellinger und Christian Dierstein in Form eines Interviews erzählt, das vor einem Greenscreen gedreht wurde, um eine mögliche Unschärfe der Wirklichkeit zu suggerieren.
Ihr Film enthält neue Kompositionen von Hannes Seidl und Charles Kwong. Die beiden haben auch die Musik für die übrigen Momente des Abends komponiert. Hatten Sie als die Filmemacherin dieses Projekts auch Einfluss auf die Live-Performances?
SG: Ja, wir alle hatten die gleiche Möglichkeit, künstlerisch zum Projekt beizutragen. Es war sehr organisch – wir haben geredet, gebrainstormt, einige Ideen aufgegeben und uns für andere begeistert. Wir waren ständig im Austausch über unsere Ideen. Es war von Anfang an klar, dass wir dies als ein großes kollaboratives Projekt betrachten müssen, mit individuellen Ideen innerhalb des Rahmens. Einige Entscheidungen, die ich getroffen habe, beeinflussten die Arbeit von Charles und Hannes und natürlich auch umgekehrt.
(Interview: Eckhard Weber)