für Orchester (2008)
Den Sufismus, oft als mystische Ausrichtung des Islam beschrieben, konnte Samir Odeh-Tamimi während seiner Jugend in Israel in seiner palästinensischen Familie direkt erleben. Dies hat der Berliner Komponist 2014 im Zusammenhang mit der Uraufführung von Mansur bei den Salzburger Festspielen erzählt. Das Werk hat er für Chor, vier Blechbläser und zwei Schlagzeuger geschrieben. Er wurde dazu von sufischen Gebetsritualen inspiriert: »In meiner Jugend verfolgte ich diese Zeremonien mit großer Aufmerksamkeit. Nicht aus religiösem Interesse, sondern aus musikalischem. Mich beeindrucken diese Rituale bis heute durch ihre Archaik und Tiefe, durch ihre Ekstase und Konzentration.« Diese Elemente aus den spirituellen Praktiken der Sufis haben auch bereits einige Jahre zuvor sein Werk Rituale beeinflusst. 2009 wurde es in der Reihe musica viva des Bayerischen Rundfunks in München mit dem Symphonieorchester des BR unter der Leitung von Arturo Tamayo uraufgeführt.
Die Männer aus der mütterlichen Linie der Vorfahren von Samir Odeh-Tamimi gehörten Sufi-Bruderschaften an. Sein Stief-Großvater war ein Heiler und Leiter einer solchen Bruderschaft. Als Jugendlicher nahm Samir Odeh-Tamimi mehrfach an solchen Sufi-Treffen teil, um die Rituale musikalisch zu begleiten. Allerdings ohne das Wissen seiner Mutter, die ihm dies verboten hätte, weil sie dies für zu extrem hielt, wie der Komponist im Gespräch mit Blick auf die Berliner Erstaufführung von Rituale bei Ultraschall Berlin verriet: »Bei Sufis denkt man an Versenkung und Innerlichkeit, etwa an die sanften tanzenden Derwische in der Türkei. Die Gruppe meines Großvaters, die zur Naqschbandīya zählte, war bei ihren Ritualen mit Gesängen und Trommelspiel in einem verdunkelten Raum jedoch auch wild und unberechenbar, wenn sie in einen Trancezustand kam. Ich war dann der einzige, der wach war, und mein Großvater brauchte jemanden, der den Rhythmus hielt.«
Dieser Zustand der Ekstase, um Gott nahe zu kommen, vermittelt sich unmittelbar in der instrumentalen Wucht und im rhythmischen Puls vieler Passagen in Samir Odeh-Tamimis Orchesterwerk Rituale. Dabei geht es ausdrücklich nicht darum, ein bestimmtes Ritual nachzuempfinden oder die von den Sufis eingesetzten Korangesänge und Tanzrhythmen als Zitate wiederzugeben. Vielmehr hat der Komponist versucht, eine Essenz aus dem Erfahrenen zu ziehen und dies mit eigenen musikalischen Mitteln umzusetzen. Das, was er aus den Gesängen und Trommelrhythmen der Sufi-Rituale übernommen habe, vergleicht der Komponist mit dem Nachhall längst vergangener Klänge in einem Raum. Es dürfte womöglich auch der Nachhall in seiner persönlichen Erinnerung sein.
In Rituale erinnert die Vehemenz der tiefen Bläserakkorde zu Beginn an archaische Fanfaren, flirrende Streicher befeuern die Dynamik. Die Impulse des Schlagzeugs fangen die Bewegungen der Ekstase ein. Im Mittelteil des Stücks treten die Streicher in den Vordergrund, in chromatisch und mikrotonal geführten Linien in hohen Lagen und in verschiedenen Schichtungen als instrumentale Umsetzung von arabisch geprägter Gesangspraxis. Zwischenzeitlich lösen sich Einzelstimmen aus diesen Strängen. Gegen Ende treffen in einer Zusammenballung mehrere Musiken geschichtet zusammen. Dies entspricht einem Phänomen, das Samir Odeh-Tamimi bei den Sufi-Zusammenkünften am stärksten beeindruckte: Auf dem Weg zur Ekstase bei einem Ritual werden aus dem gemeinsam betend singenden und tanzenden Kollektiv zunehmend individuelle Gestaltungen deutlich, verzückt in sich versunkene Teilnehmer, mit eigenen Melodien und eigenem Tempo. So sinnlich kann eine über Jahrhunderte überlieferte Mystik sein. Samir Odeh-Tamimi hat dies mit dem Kollektiv des modernen Orchesters eingefangen.
Eckhard Weber