Wenn sich Samir Odeh-Tamimi in einem Kammerwerk den Instrumenten nähert, sucht er nach einer Perspektive, die ihn fasziniert. Dadurch ergeben sich gerne neuartige und vor allem von den instrumententypischen Traditionen und Konventionen unverstellte Herangehensweisen. So auch im Solowerk Ezráh, das er für die Harfenistin des Zafraan Ensembles, Anna Viechtl, geschrieben hat. Das Stück wurde im April 2018 im Rahmen eines Gastspiels des Ensembles bei der Konzertreihe »Südseite nachts« im Stuttgarter Theaterhaus uraufgeführt.
Im Gegensatz zum Klavier oder zu den Streichern hat die Doppelpedalharfe des heutigen Konzertbetriebs Limitationen, wenn es um ein durchgängiges chromatisches Spiel, also etwa Tonleitern in Halbtönen, geht. Die Pedale müssen beim Spiel ständig eingesetzt werden, um die einzelnen Saiten halbtönig umzustimmen, schnelles chromatisches Spiel oder gar chromatische Glissandi sind deshalb nicht möglich. Genau diese Achillesverse des Instruments, diese Unzulänglichkeit in der Tongestaltung, hat das Interesse von Samir-Odeh Tamimi auf sich gezogen. So hat er in seinem Stück möglichst komplexe Akkorde kreiert, chromatische Konglomerate. Nicht zuletzt dadurch ist das Stück technisch immens anspruchsvoll, vor allem weil das Spiel Vehemenz und perkussive Kraft erfordert. Denn die Klischees des Fragilen, Verträumten und Ätherischen, die landläufig mit dem Klang des Instruments verbunden werden, sollten hier bewusst zurückgedrängt werden: »Ich wollte nicht die Zartheit der Harfe, sondern das Gegenteil, nämlich zeigen, dass die Harfe auch beißen kann und nicht nur ein ›Engelsinstrument‹ ist.«
Der Titel des Stücks, das arabische Wort efráh (افراء), bedeutet im Deutschen so viel wie »Zersplitterungen«. Darüber hinaus kann efráh als Palindrom des Wortes »Harfe« gelesen werden. Ursprünglich wollte Samir Odeh-Tamimi sein Werk Harfe nennen. Während des Komponierens fiel ihm dann auf, dass das Wort rückwärts gelesen das arabische Wort ergibt, wie er im Interview für Ultraschall Berlin erzählt hat. »Während der Arbeit habe ich gemerkt«, so Samir Odeh-Tamimi, »dass ich da etwas komponiere, nämlich kompakte, clusterartige Akkorde, die im Laufe des Stückes zersplittern, was genau das ist, was das Wort efráh ausdrückt.«
Eckhard Weber