Bei der Gattungsbezeichnung »Capriccio« – vor allem in Verbindung mit der Violine – drängt sich der Name Niccolò Paganini regelrecht auf, damit zirzensische Virtuosenkunst und auf Effekt komponierte Bravourstücke. Natürlich stünde jedoch nichts Salvatore Sciarrino ferner als das. Der mittlerweile 70-jährige Italiener wird gerade für seine subtile Gestaltung geschätzt, für die dezenten Töne, für filigrane Gebilde, für die sensible Behandlung feinster farblicher Nuancen der Klänge. Für seine Meisterschaft des unmerklichen Übergangs, nicht zuletzt auch in seinen Werken für das Musiktheater. Deshalb führt Sciarrino den mittlerweile ziemlich abgegriffenen und hinreichend vagen Gattungsbegriff »Capriccio« auf den ursprünglichen Wortsinn zurück, auf die Bedeutung von »Laune«, »Schrulle«, als Erfindung aus einer spontanen Laune heraus oder als inspirierte Eingebung. Insofern sollte man sich auch von den konventionellen italienischen Tempoangaben und Vortragsbezeichnungen (Vivace, Andante, Assai agitato, Volubile, Presto, Con brio) nicht täuschen lassen: Als Salvatore Sciarrino seine 6 Capricci für Violine 1976 komponierte, fasste er die Möglichkeiten von Solobravourstücken neu und individuell auf, anders und jenseits der Tradition. Im Zentrum dieser sechs Stücke steht der Klang: Kontraste zwischen kurzen Zuspitzungen und feinen Ziselierungen in vielfach differenzierter Linienstärke, An- und Abschwellen, instrumentales Hauchen, verinnerlichte Nuancen, subtile Intensivierungen, ein ausgiebiges Erforschen der Obertöne, Glissandi in Bereich der Mikrotöne, zarte Pizzicati. Das alles wirkt unmittelbar und spricht direkt an. »Die Kompositionstechnik der Capricci entspringt einer Logik des Körpers«, so der Komponist in einem kurzen Werkkommentar, »als solche widersetzt sie sich wirkungsvoll jeder abstrakten Kompositionstechnik, und zwar jeder Methode, die über den Klang und den seiner Hervorbringung hinausgeht.«
Eckhard Weber