Der in Paris lebende, aus Chile stammende Komponist Roque Rivas erhielt 2013 den Produktionspreis des Giga-Hertz-Preises, der seit 2007 jährlich vom Zentrum für Kunst und Medien Karlsruhe (ZKM) und vom SWR Experimentalstudio Freiburg verliehen wird. Damit verbunden gab es die Möglichkeit, an einer der beiden Institutionen ein Werk zu erarbeiten. Roque Rivas entschied sich für Freiburg, denn seit seinem Studium in Lyon und am Pariser IRCAM hat er sich mit »Mixtur-Werken«, so Roque Rivas Bezeichnung dafür, Stücken mit Instrumentalklang und Live-Elektronik beschäftigt. Somit kam der Komponist in den Jahren 2015 und 2016 für mehrere Arbeitsaufenthalte nach Freiburg ins SWR Experimentalstudio. Im November 2016 wurde dann sein in Freiburg entwickeltes Stück Blumentanz im Rahmen des Giga-Hertz-Preis-Festivals am ZKM in Karlsruhe uraufgeführt.
Sein Werk Blumentanz versteht Roque Rivas als eine Solo-Partita des 21. Jahrhunderts für Cello und Elektronik. Zwar nicht direkt zitierte, aber in der Atmosphäre und Temperatur des Stücks beim Komponieren imaginierte Referenzwerke sind die sechs Suiten für Violoncello BWV 1007–1012 von Johann Sebastian Bach sowie die drei Cello-Suiten op. 72, op. 80 und op. 87 von Benjamin Britten. Aufgrund der Tanztradition, die jene Werke prägt, hat der Begriff »Tanz« Eingang in den Titel Blumentanz erhalten. Der Titelbestandteil »Blumen« stellt dagegen eine poetische Referenz an den Standort des SWR Experimentalstudios dar: Als Roque Rivas 2015 zum ersten Mal für sein Werk nach Freiburg kam, war er nicht nur von der Atmosphäre und den technischen Möglichkeiten des SWR Experimentalstudios beeindruckt, ihn begeisterte auch die Lage der Stadt in der Nähe des Schwarzwalds. Womöglich hat er auch die Geranien an den Treppenaufgängen vom Freiburger Bahnhof gesehen. Auf jeden Fall wollte er unbedingt eine Assoziation mit der Vegetation in seinen Titel einbringen. Mit der Erinnerung an Robert Schumanns Klavierkomposition Blumenstück op. 19, das Roque Rivas selbst in seiner Jugend spielte, kam er schließlich auf den Titel Blumentanz.
Aus der Perspektive einer Suite besteht Blumentanz aus zwei nahtlos aufeinanderfolgenden Sätzen: Für die getragene erste Hälfte stand als fernes Vorbild der Suitensatz Sarabande Pate, vor allem auch in der modernen Lesart, wie sie in Benjamin Brittens Cellosuite op. 72 als Lamento auftritt. Dies erklärte Roque Rivas im Interview vor der Aufführung seines Stücks 2021 im Rahmen der Jubiläumskonzerte anlässlich des fünfzigjährigen Bestehens des SWR Experimentalstudios in Freiburg. Die zweite Hälfte von Blumentanz folge, so Rivas, in seinem schnellen Tempo und seiner durchgehenden Bewegungsenergie dem Vorbild einer Gigue: »Es ist ein virtuoses Werk. Ich habe versucht, zwei Dimensionen zu erkunden: In einer langsamen Bewegung, der ersten Hälfte des Stücks, öffnet sich der Klangraum mit der Live-Elektronik. In der zweiten Hälfte mit ihren nervösen Bewegungen wird wie bei einem Perpetuum mobile konstant die Energie und damit die Spannung aufrechterhalten.«
Schon der Cellopart alleine, ohne Elektronik, hat virtuose Züge, etwa in der Betonung der Obertöne im Spiel, mit Tremoli, Flageoletts, dem Wechsel von Bogenstrich und Pizzicato sowie durch akkordisches Spiel mit mikrotonalen Reibungen. Diese virtuose Aura wird noch hochpotenziert mit dem Einsatz der Elektronik. Roque Rivas zielt hier auf eine zusätzliche Ausweitung des Celloklangs. Sein Ziel sei dabei eine »Orchestrierung« der Celloklänge gewesen, wie er erläuterte. Im Cellopart, der ohnehin ausdrucksvolle und dramatische Passagen aufweist, wird eine extreme Intensivierung der Expressivität beispielsweise mit Klangsynthese und Sampler erreicht. Spannungsmomente werden außerdem mit Hilfe der Live-Elektronik intensiviert und die Farbpalette sehr differenziert ausgeweitet. Zusätzlich wird die Virtuosität auf die Verräumlichung des Klangs übertragen, einhergehend mit rhythmischen Bewegungen im Raum: »Die Lautsprecher sind für mich eine Art Instrument« so die Erklärung von Roque Rivas. Das klangliche Ergebnis all dieser Vorgehensweisen weist ein überaus dichtes Flirren im Oberton-Spektrum auf und bietet einen vielschichtigen Dialog des live-elektronisch erweiterten Cellos mit sich selbst. Dies alles geschieht in einem Kontinuum, das sämtliche Klangausprägungen übergangslos integriert. Das Faszinierendste daran: Dieser Klangraum wirkt gleichzeitig weit und dicht und erzeugt dabei einen unaufhörlichen Sog.
Im fließenden Übergang geht es im Stück zur motorisch bewegten zweiten Hälfte von Blumentanz, jener neuen Neuinterpretation einer Gigue. Hier gibt es dementsprechend rhythmisch treibendes Figurenwerk: Wechselnoten, Läufe und Wellenbewegungen in kurzen Notenwerten, das Ganze noch als enorme spieltechnische Herausforderung staccato oder marcato gespielt. Schnell wechselnde Dynamikkontraste sorgen für zusätzliche energetische Impulse. Im Verlauf des Satzes intensiviert sich die Motorik, sprudelnde Spielfiguren werden zu repetierten, leicht variierten Patterns und diese zu irisierenden, pulsierenden Klangfeldern. Zwischendurch scheinen sich manche der Strukturen aufzureiben oder zu verschwimmen, dafür dringen metallene Klangfarben ein. Zunehmend führt dies zu verstärkt körnigen und geräuschhaften Texturen, bis sich die gesamte Bewegung in einer überraschenden Transformation am Ende auflöst. Sollten sich bei dieser geballten Energie des zweiten Satzes Assoziationen mit vergleichbaren Phänomen im Jazz oder in der Rockmusik einstellen, ist dies nicht verwunderlich: Schließlich hat Roque Rivas hat in seiner Jugend als Gitarrist beide Genres mit Begeisterung bedient.
Eckhard Weber
(Überarbeitete Version eines Originalbeitrags zur Uraufführung am 18. November 2021 im Rahmen der Jubiläumskonzerte aus Anlass des 50-jährigen Bestehens des SWR Experimentalstudios in Freiburg)