Die in Berlin lebende Komponistin Rebecca Saunders, 2019 als erste Komponistin überhaupt mit dem Ernst von Siemens Preis ausgezeichnet, ist in London als Tochter eines Pianisten und einer Pianistin aufgewachsen. Klavierklänge umfingen sie nahezu permanent. Als Kind verbrachte sie Stunden unter dem Flügel und hatte somit Gelegenheit, intensiv die Tasten- und Pedalgeräusche wahrzunehmen, das Hämmern auf den Klaviersaiten, die vielfältigen Nuancen der von den Klaviersaiten erzeugten Klänge und ihr Abstrahlen aus dem Holzkorpus. Somit ist leicht nachvollziehbar, dass Rebecca Saunders einen besonderen Zugang zum Klavier hat, auch wenn sie für eine Triobesetzung schreibt, bei dem das Instrument mitwirkt. Dies ist auch bei That Time zu beobachten, ein Stück, das sie für das Trio Accanto komponiert hat als gemeinsames Auftragswerk von Radio France, Südwestrundfunk, Lucerne Festival and Milano Musica. That Time kam im Februar 2020 beim Festval Présences Paris zur Uraufführung, in einer revidierten Fassung wurde es bei den Donaueschinger Musiktagen im Oktober 2022 präsentiert, beide Male interpretiert vom Trio Accanto.
Für die Interaktion mit Baritonsaxophon und Schlagzeug schreibt Rebecca Saunders im Klavierpart neben dem Spiel auf den Klaviersaiten vor allem sehr differenziert gestaltete Cluster vor: Es wird unterschieden zwischen Clustern auf den schwarzen Tasten und weißen Tasten und chromatischen Clustern. Zudem gibt es im Stück Cluster, die beispielsweise mit der Handfläche erzeugt werden, mit dem Unterarm oder mit dem Ellbogen, und Cluster, die praktisch tonlos gehalten werden, was jedoch nichtdestoweniger klangliche Wirkung in den Klaviersaiten entfaltet. Ein weiteres Strukturelement sind verschiedene Glissandi. Zur Ausführung dieser Glissandi trägt der Pianist weiche Halbhandschuhe, also solche, bei denen die Fingerkuppen unbedeckt sind. Das Ergebnis dieser besonderen Auswahl aus den Spieltechniken für das Klavier sind überaus dichte, komplexe Klangereignisse, bei denen sich zahlreiche Interferenzen ergeben. Der Klavierpart ist auf diese Weise ein ebenbürtiger Partner für das klangstarke Baritonsaxophon, das in That Time mit den vielfältigen Spieltechniken, die sich in der Spielpraxis des Instruments herausgebildet haben und in der Neuen Musik eingesetzt werden, aufwartet: von diversen Multiphonics, also Mehrklängen, verschiedenen Trillern, über Flatterzunge bis zum Tongue Slap, einem knallenden Klang, der sich ergibt, wenn mit der Zunge am Mundstück des Saxophons kurz Unterdruck erzeugt wird.
Der Schlagzeugpart hat für eine Triobesetzung eine verhältnismäßig weite Palette aus der Instrumentenfamilie mit einigen Neuerungen und außergewöhnlichen Kombinationen, alle genau abgehört für das Stück: Zum Einsatz kommen eine Große Trommel und eine Kette, ein Bambusrohr, zwei Pauken und fünf Klangschalen in verschiedenen Tonhöhen. Außerdem wird ein Bass-Nicophone verwendet, ein 2008 erstmals in Basel von Nicola und Domenico Melchiorre der Öffentlichkeit vorgestelltes Instrument. Es besteht aus einem speziell legierten, teils offenen Metallkorpus mit zahlreichen Lamellen an der Oberseite, angeordnet wie die Platten eines Vibraphons. Die besondere Bauart erlaubt eine weites Klangspektrum, das auch Mikrotöne miteinschließt und den Teiltonbereich gut zur Geltung bringt. Zum Schlagzeug gehört daneben ein großes Guiro, drei Aluminiumtriangeln in verschiedenen Größen und vier unterschiedliche stabile Aluminiumstreifen. Außerdem kommen zwei verschieden gestimmte Burma Bells (Kyeeze), zum Einsatz. Diese Burma Bells sind flache Hängeglocken, die beim Anschlagen mit einem Schlägel einen hellen, relativ lang anhaltenden, leicht pulsierenden Klang erzeugen. Eine Besonderheit ist, dass einige dieser Schlaginstrumente so positioniert sind, dass sie sich gegenseitig bei den Resonanzen direkt beeinflussen: So sind die Klangschalen auf einer der Pauken angebracht, darüber hängen die Glocken und die Triangeln. Auf der anderen Pauke befindet sich eine Dose und das Nicophone.
Ihren Werktitel hat Rebecca Saunders vom gleichnamigen Spätwerk von Samuel Beckett entlehnt, vom 1975 entstandenen Einakter That Time ( »Damals«), der 1976 in London aus Anlass von Becketts siebzigsten Geburtstag uraufgeführt wurde. In diesem Theaterstück werden Erinnerungen beschworen, die von drei Stimmen, A, B und C genannt, auf einen betagten »Hörer« einwirken. Die Monologe von A, B und C, die vorwiegend bruchlos ineinander übergehen, schildern Episoden aus dem Leben offenbar einer einzigen Person und erweisen sich als die verschiedenen Aspekte dieser Person, offenkundig des »Hörers«. Becketts Stückhat Rebecca Saunders zu ihrer Komposition angeregt. Der Partitur von That Time hat sie ein Zitat aus dem Text von Beckett als Motto vorangestellt, eine Passage aus dem Part der Stimme C. Diese erinnert sich daran, wie sie vor unwirtlichem Winterwetter in öffentlichen Gebäuden Schutz sucht. Auch in einer Bibliothek, in der die Bücher plötzlich zerbröseln und zu Staub werden, eine verstörende Verquickung von Realität und Imagination: »Nicht ein Laut nur der alte Atem und die sich drehenden Blätter und dann plötzlich dieser Staub der ganze Ort plötzlich voller Staub wenn man die Augen öffnete vom Boden bis zur Decke nichts nur Staub und kein Laut nur wie hieß es doch es hieß gekommen und gegangen war das so etwas wie gekommen und gegangen gekommen und gegangen niemand kam und ging in kürzester Zeit gegangen in kürzester Zeit«.
Drei Stimmen, die nebeneinander herlaufen, aber auch verbunden sind durch die Rückbesinnung an ein gemeinsames Leben. Drei unterschiedliche Perspektiven, die offenbar zu einer Person gehören. Schließlich das unerwartete, nicht greifbare, fantastische Umschlagen einer Realität in eine beängstigende fantastische Vision. Was für ein suggestives, anregendes Ausgangsszenarium für das musikalische Aushandeln dreier Musikinstrumente! Einiges davon schlägt sich strukturell und formal in Rebecca Saunders Komposition nieder: Großformal werden die vormals dichten Strukturen später aufgelichtet und lösen sich tendenziell auf. In der ersten Hälfte jedoch sind die Interaktionen der drei Instrumente so angelegt, dass sie tatsächlich wie drei Teile eines vielgestaltigen einzelnen Superinstruments wirken. Für diese erste Hälfte des Stücks wird in der Partitur gefordert: »Es sollte die ganze Zeit über ein starker Kontrast herausgearbeitet werden zwischen den Forte- und Fortissimo-Ausbrüchen und -Passagen einerseits und den eher warmen, expressiven Resonanzen und melodischen Fragementen. Zwei klar abgegrenzte Zustände sollten deutlich nebeneinander stehen. « Im Rahmen dieser Dichotomie ergeben sich in schneller Abfolge dichte Strukturen, die mit einer zunehmenden Intensität im Zusammenspiel einhergehen. Dabei treten die einzelnen Instrumente, vor allem das Saxophon, kurzzeitig regelrecht virtuos hervor. Mitunter haben manche Momente sogar die Anmutung einer äußerst inspirierten Jazz-Session. Verblüffend ist bei all diesen Klangereignissen die Ambivalenz: die drei Instrumente verschmelzen miteinander und wahren gleichzeitig weiterhin ihre individuelles Profil – ein Geheimnis der sorgsam ausgeforschten und sensibel abgehörten musikalischen Kompositionskunst von Rebecca Saunders.
Nach gut einer Viertelstunde setzt in diesem etwa 22 Minuten dauernden Stück eine Beruhigung der Bewegungsenergie ein, die Einsätze der Instrumente entfalten sich nun einzeln, die Strukturen werden tendenziell flächiger. Für diese zweite Hälfte gibt Rebecca Saunders in der Partitur den Hinweis: »Weiträumig und frei. Jedes Instrument hat seine eigene gesonderte Klangoberfläche. Die drei Partien bewegen sich zwischen Verzahnen und Trennen. Entgegen dem statischen Charakter der Klänge ist diese Tendenz stets in Bewegung, ohne Stillstand. « Und schließlich gibt es den Hinweis: »Vermeiden Sie Melancholie!« Inspiriert von Samuel Beckett verhandelt Rebecca Saunders in That Time die drei Instrumentaleinsätze in einem fein abgestimmten Verhältnis zueinander – in den klanglichen Texturen, in den Binnenstrukturen und in der Großform.
Eckhard Weber