Rebecca Saunders ist in London als Tochter eines Pianistenpaares aufgewachsen, Klavierklänge umfingen sie nahezu permanent. Als Kind verbrachte sie Stunden unter dem Flügel und hatte somit Gelegenheit, intensiv die Tasten- und Pedalgeräusche wahrzunehmen, das Hämmern auf den Klaviersaiten, sowie die vielfältigen Nuancen der von den Klaviersaiten erzeugten Klänge und ihr Abstrahlen aus dem Holzkorpus. Wie schreibt jemand mit solch einer Hörbiografie ein Klavierwerk?
Rebecca Saunders‘ Klavierstück crimson aus dem Jahr 2005 ist eine Verschmelzung des Materials aus zwei zuvor entstandenen Stücken: aus dem zurückgezogenen Solo aus dem Jahr 2002 und aus Piano solo, entstanden für die choreographische Installation Insideout von Sasha Waltz, 2003 in Graz uraufgeführt, im Rahmen des Programms als Kulturhauptstadt Europas. Bei crimson handele es sich um »eine intensive Auseinandersetzung mit der spezifischen Farbpalette von Klavierklängen« hat Rebecca Saunders in einem kurzen Werkkommentar verraten, um dies zu konkretisierten: »Das kontrastierende Material der drei Abschnitte verfolgt jeweils die gleiche ›Intention‹, die ich am ehesten mit einem Bezug zur Farbe Karminrot definieren kann.« In diesem Zusammenhang nennt die Komponistin auch das Attribut »blutrot«, was dem Charakter ihrer Musik in einigen Aspekten entspricht, indem rohe Gewalten, durchaus auch eine durchaus aggressive Dynamik, in Klang gegossen sind.
Im ersten Abschnitt folgen extreme Dynamikkontraste aufeinander: Es gibt klangstarke Cluster in hoher Lage, roh und grobschlächtig im Charakter, nur möglich bei kraftvoller, nachdrücklicher Spieltechnik. Über diesen Clustern wird eine Melodie sachte eingestreut. Dazwischen stehen immer wieder sehr leise Akkorde, deren Nachhall genügend Zeit eingeräumt wird, sowie Pausen. Zum Dämpfen des Klavierklangs an diesen Stellen wird intensiv vom Pedal Gebrauch gemacht, mitunter bis zum dumpfen, tonlosen Anschlag der Tasten. Durch diesen Kontraste wirken die verschiedenen Dynamikbereiche jeweils ausgeprägter in ihrer Qualität: Die massiven, robusten Klänge wirken einerseits in der Stille nach, im Gegenzug machen eine vormalige Pause oder leise Passagen die Forte-Bereiche der folgenden Cluster umso monströser.
Der mittlere Abschnitt von crimson hebt vorwiegend die perkussiven Aspekte des Klavierspiels hervor, mit teils hohem, aber auch dumpfem Hämmern, Tonrepetitionen und peitschenden Akkordschlägen. Im letzten Abschnitt ereignet sich in der Großform eine Wirkung, wie sie bereits im ersten Abschnitt in der Binnenstruktur zu erfahren war: Das Geschehen beruhigt sich, zieht sich zurück, geradezu zart sich vortastende Akkorde sind zu hören, denen wiederum Zeit zum Ausschwingen gegeben wird. Jedoch ist dieser Schlussteil keine ruhige Idylle. Zu gewaltig, zu rabiat war das Geschehen davor, es wirkt in diesen zurückgenommenen Passagen, in dieser relativen Stille, nach, es wird beim Hören nach wie vor mitimaginiert. »Lauter kann Stille kaum klingen«, hat Henrik Oerding am Beispiel von Rebecca Saunders Fury für Solo-Kontrabass im Januar vergangenes Jahres in der Süddeutschen Zeitung ein Wesensmerkmal dieser Musik auf eine Formel gebracht. Damals wurde gemeldet, dass Rebecca Saunders 2019 mit dem prestigeträchtigen Ernst-von-Siemens-Preis ausgezeichnet werde, zuweilen als »Nobelpreis der Musik« bezeichnet. Seit der ersten Verleihung des Preises 1974 ist sie die erste Komponistin überhaupt und nach der Geigerin Anne-Sophie Mutter 2008 die zweite Frau in der Reihe der Preisträger.
In Rebecca Saunders‘ Werken werden sensibel und hellhörig die elementaren Prinzipien von Musik herausgearbeitet und damit verbunden die Wahrnehmung von Klingendem verhandelt: »Was mich interessiert, ist der Übergang zwischen Nicht-Klang und etwas Konkretem, der Übergang aus der Stille und in die Stille, von Geräusch in Klang«, hat sie einmal betont. Dies gilt auch bei ihrem Komponieren für das Klavier, wie crimson eindrücklich zeigt.
Eckhard Weber