Inmitten eines Grundrauschens aus Blasinstrumenten und düster aufbrandenden Streichern, aus elektronischem Zischen und Störgeräuschen, erklingt die Stimme von Emre Dündar wie ein gedehnter Appell. Mit Satz- und Wortfetzen, gesungenen und gesprochenen Lauten und Vokalisen, die unvermittelt von hohen in tiefe Register umschlagen, bekundet er ein sonisches Verschwinden: sein Stück De Vulgari Eloquentia von 2017 ist dem letzten Sprecher der ubychischen Sprache aus dem Nordwest-Kaukasus gewidmet, der 1992 in der Türkei starb. „Jede Sprache hat ihre eigenen musikalischen Qualitäten,“ sagt Dündar im Gespräch. „Ich habe De Vulgari Eloquentia zuerst improvisiert und dann eine Spektralanalyse meiner Stimme vorgenommen. Die Analyse eines Klangs fördert so viele Geheimnisse zutage, auf die man aufbauen kann. Ich schreibe Phrasen für Instrumente, die meine Art des Sprechens und Singens miteinander verbinden.“ Dündars Partituren, ob für Orchester, Klavier mit Elektronik oder Holzbläser in verschiedenen Konstellationen sind sehr ausgefeilt, die Verwendung von Symbolen, Schriftarten und Spielanweisungen begreift er als eigene Kunst. Die Überantwortung seiner Werke an zeitgenössische MusikerInnen kann aber herausfordernd sein: „Sie versuchen zuerst, die Partitur insgesamt zu erfassen. Ich aber möchte sie dazu bewegen, eine erzählende Phrase zu spielen, oder als Individuum zu sprechen.“
Dichtung hat es Dündar besonders angetan. Er komponierte eine Soirée Gotique nach Gedichten von Emily Dickinson und widmete sich intensiv den Skizzen der modernen türkischer Lyriker İlhan Berk und Ece Ayhan. „Entwürfe sind keine geschlossenen Werke, sondern noch immer lebendig. Wie ein Geist, ein Papier, das man vergisst. Die Skizze vermittelt mir den Klang der Poesie. So nehme ich eine imaginäre Verbindung mit dem Dichter auf, der seinen Weg durch die Unordnung der Worte gefunden hat. In der Dichtung entdecke ich immer wieder neue Strukturformeln, die ich mit der musikalischen Narration in Einklang bringe.“ Dündar ist vertraut mit den oralen Traditionen seiner Region, etwa mit den singenden Erzählern, Aşıks, die seit Jahrhunderten in Vorder- und Zentralasien anzutreffen sind. Die Meddâhs waren populäre Geschichtenerzähler in der Türkei, die aktuelle Ereignisse aufgriffen und ihre Vorträge mit Spott und Sozialkritik anreicherten. Dem Rezitator Kani Karaca hat Dündar gerne gelauscht, er war ein Meister des gesungenen Vortrags von Koranversen in der Tradition der türkischen Hāfiz. Dündar spielt Klarinette und Altsaxofon, sein erstes Instrument aber war das Klavier. Er beschreibt seine Mutter, die Konzertpianistin Meral Dündar, als rigorose Lehrerin. Am Istanbuler Konservatorium studierte er bei İlhan Usmanbaş, dem wichtigsten Protagonisten der modernen zeitgenössischen Musik in der Türkei. Eine Übung war, Pastiches klassischer europäischer Komponisten zu schreiben. Offiziell sollten Komponierende türkische Volkslieder in klassische Musik integrieren, ähnlich wie im sozialistischen Realismus, wie Dündar meint. Beide Fertigkeiten kommen ihm beim Komponieren von Filmmusik zugute, er schätzt die Begrenzung auf die direkte Ansprache der Zuschauenden und die Produktionstechnologien, die er auch für seine elektronische Musik nutzt. Einmal im Monat trifft er sich mit seinen Mitstreitern des Istanbul Composers Collective im Studio und nimmt zahlreiche Klänge auf, die jeder von ihnen anschließend verwenden kann. Und so erklingt Dündars Stimme bereits in anderen Werken zeitgenössischer türkischer Komponisten.
Franziska Buhre
Mit freundlicher Genehmigung des Berliner Künstlerprogramms des DAAD.
Amid an undertone of wind instruments and solemn, fiery strings, of electronic hissing and noises, Emre Dündar’s voice resonates like an elongated plea. With fragments of sentences and words, sung and spoken sounds and vocalizations that switch suddenly from high to low registers, he gives voice to a sonic disappearance: his piece De Vulgari Eloquentia (2017) is dedicated to the last speaker of the Ubykh language from the Northwest Caucasus who died in Turkey in 1992. “Each language has its own musical qualities,” says Dündar in conversation. “I improvised De Vulgari Eloquentia first, after that I made a spectral analysis of my voice. When you analyze a sound you understand there are so many secrets you can build upon. When I am writing phrases for instruments, I am creating connections between my speaking and my singing style.” Dündar’s scores, whether for orchestra, piano with electronics, or woodwinds in various constellations, are highly complex; he sees the use of symbols, typefaces, and playing instructions as his own art form. Entrusting contemporary musicians with his works, however, can present a challenge: “When musicians look at the scores, they first try to understand everything. But I want them to play a narrative phrase, or to speak as individuals.”
Poetry in particular appeals to Dündar. He composed a Soirée Gotique after poems by Emily Dickinson and devoted himself extensively to the sketches of modern Turkish poets İlhan Berk and Ece Ayhan. “Sketches are not closed but something still alive. Like a ghost, a paper to forget but this paper gives me the sound of the poetry. When I look at it I create an imaginary connection with the poet who tried his way through the mess of words. In poetry I constantly discover new structural formulas that I reconcile with musical narration.” Dündar is familiar with the oral traditions of his region, like those of the Aşıks minstrels who have been around for centuries in both Western and Central Asia. The Meddâhs were popular storytellers in Turkey who touched on current events and augmented their lectures with sarcasm and social criticism.
Dündar plays clarinet and alto saxophone, but his first instrument was the piano. He describes his mother, the concert pianist Meral Dündar, as a rigorous teacher. At the Istanbul Conservatory, he studied under İlhan Usmanbaş, the most important protagonist of modern contemporary music in Turkey. An exercise was to write pastiches of classical European composers. Officially, composers were supposed to integrate Turkish folk songs into classical music, much like socialist realism, Dündar says. Both skills serve him well when composing music for film; he appreciates being limited to addressing viewers directly and to production technologies he also uses for his electronic music. Once a month, he meets in the studio with fellow Istanbul Composers Collective members and records a variety of sounds anyone of them is welcome to use afterwards. And thus Dündar’s voice already resonates in the works of other contemporary Turkish composers.
Franziska Buhre (english translation: Erik Smith)
With kind permission by DAAD Artists-in-Berlin Program