Pierluigi Billone ist einer der radikalsten Forscher unter den Komponisten, seine ebenso intensiven wie zeitlich ausgedehnten instrumentalen ›Tiefenbohrungen‹ sind legendär. Immer wieder hat sich Billone aber auch mit der Stimme auseinandergesetzt. Eines seiner frühesten Werke war KE.AN-Cerchio für Bass solo aus dem Jahr 1995. Was Billone damals intendierte, kann man fast unverändert bis in die Gegenwart fortschreiben. Das Werk sei »als Forschungsreise und Weg konzipiert«, so Billone. »Jede Station auf dem Weg ist ein Kreis: ein einzigartiger Moment, rituell geöffnet und wieder geschlossen, der einen Raum im Innern der Stimme und des Gesangs ›gräbt‹.« Und wenig später ist die Rede von einer »Perspektive, die sich entfernt vom Konzept der Stimme und des Gesangs, wie es für unsere klassisch-romantische Tradition typisch ist«.
Diesem ersten Vokal-Solo-Werk folgte ein knappes Dutzend von Werken für Stimme und Ensemble bzw. Stimme und Orchester. Bezeichnenderweise handelt es sich dabei stets um solistisch behandelte Stimme(n), nur ein einziges Mal schrieb Billone für einen Chor, und auch da löste er das SWR Vokalensemble in 36 Stimmen auf. Andererseits führt Billone mehrfach die Solo-Stimme mit einem solistisch agierenden Instrument zusammen, sei es die Posaune, das Fagott oder (in einem Duo) das Akkordeon. Dass es sich dabei durchweg um Blasinstrumente handelt – auch das Akkordeon ist ja ›luftbetrieben‹, – ist sicher kein Zufall. In Face übernehmen diese Rolle zwei Musiker. Die Flöte hat dabei, so Billone, selbst einen »Vokalpart«, der kompositorisch eng mit der Solostimme verbunden ist. Heimlicher Herrscher über das Geschehen (und auch über die Solostimme) ist aber ein Adhoc-Spieler. Er hat, so Billone, »eine geheimnisvolle und rituelle Funktion als Initiator und Mediator des stimmlichen Geschehens, der die Stimmpartie nicht nur begleitet und kommentiert, sondern kurzzeitig auch übernimmt«.
Mit der »rituellen Funktion« ist eine wesentliche Eigenschaft von Billones Musik angesprochen. Viele seiner Werke entziehen sich mit zunehmender Aufführungsdauer einem rein analytischen Hören. Man muss nicht so weit gehen, von einem »kultischen Raum« zu sprechen, wohl aber erzeugen die Intensität des musikalischen Geschehens und der nie unterbrochene Energiestrom ein soghaftes Moment, das eindeutig rituelle Züge trägt. Auch davon ist schon im Zusammenhang mit Billones erstem Vokalwerk die Rede: »Dann betritt die Stimme eine andere Dimension«, schreibt der Komponist, und ergänzt: »unter Verlust der Identität.«
Mit der Dimension des Rituals eng verbunden ist die extreme Körperlichkeit von Billones Musik, ob es sich nun um Instrumental- oder um Vokalmusik handelt. Der Interpret agiert bei Billone in einem hohen Maße mit ›Ganzkörpereinsatz‹. In Face ist diese Tendenz auf die Spitze getrieben. »Es geht um die Schwingung des Körpers und den Klang der Stimme«, so der Komponist. Alle anderen Aspekte treten demgegenüber in den Hintergrund. Gerade in seiner über weite Strecken ›instrumentalen‹ Behandlung des Vokalen ist Billone also ganz nah an jenem innersten Kern des Singens, der die Stimme als die körperlichste aller musikalischen Ausdrucksformen konstituiert.
Und wo bleibt der ›Sinn‹, wo findet sich ein über das musikalische Ritual hinausgehender semantischer Gehalt? Der vokal-instrumentalen Sphäre wird in Face eine elektronische Zuspielung zur Seite gestellt, zu hören sind Zitate von Helmut Lachenmann, Luigi Nono, Giacinto Scelsi, John Cage und Karlheinz Stockhausen. »Fossile Zitate« nennt Billone diese Zuspielungen. Es sind prägnante, wenngleich höchst divergente Aussagen über das Wesen der Musik, den Charakter des Klangs und wie dieser unser Hören verändert. Vielleicht ist aber selbst hier die Semantik der Zitate weniger wichtig als die Aura, von der die Stimmen dieser bedeutenden Künstler der Nachkriegs-Avantgarde getragen werden, wie fragmentiert sie auch erklingen.
»Stimme«, so schrieb Billone zu Beginn seiner Arbeit an Face, »meint hier eine reale Konstellation, die in alle Richtungen und in jeglichem Sinn offen ist. Sie erscheint überall und in beliebiger Form, und die Logik ihres Erscheinens bleibt geheimnisvoll und unklar.«
Rainer Pöllmann