(2014/15) 25‘ – für Violoncello und großes Orchester
How much the present moment means
To those who’ve nothing more —
The Fop — the Carp — the Atheist —
Stake an entire store
Upon a Moment’s shallow Rim
While their commuted Feet
The Torrents of Eternity
Do all but inundate —
Emily Dickinson
wenige gedichte haben mich beim ersten lesen so angefaßt wie jenes von emily dickinson, das zündfunken und titelgeber für mein cellokonzert upon a moment’s shallow rim war.
ganz nüchtern betrachtet balanciert das cello, bisweilen ein bißchen wie ein seehund auf der nase, den kompletten orchester-„laden” (the „entire store”) auf seinem recht zarten klang. ein einzelnes cello ist gegen ein orchester eine sehr zarte kleine stimme, die mit einer so großen besetzung nicht wegzufegen, man sich beim hantieren mit den klängen schon wirklich große disziplin auferlegen und noch größere mühe geben muß.
aber dann ist da noch dieses „etwas”, das mich so in dieses gedicht gezogen und mich eine musik hat hören lassen. für mich ist „der ganze laden” auch ein bild für ein „alles”, die welt, das leben, etwas sehr buntes, reichliches, mit sehr vollgestopften regalen voller spannender möglichkeiten, träume, phantasien und seifenblasen – spinner, nörgler, atheisten und wir alle balancieren diese läden auf sehr schmalen rändern, immer in der angst, sie könnten uns aus der balance geraten und zusammenstürzen. mit diesem gefühl im bauch habe ich mich an das schreiben dieses stückes begeben – und wahrscheinlich sind mir dann auch so dinge „passiert”, wie der umstand, daß der cellopart sehr hoch liegt, bei aller gesanglichkeit und bisweilen süffigkeit immer auch etwas sehr gefährdetes und zerbrechliches hat. heute, zehn jahre, nachdem ich das stück geschrieben habe, höre ich auch immer wieder momente großer trauer oder einsamkeit (ich kanns nicht mehr sagen, was das wohl war), dann rhythmische tanzschritte des orchesters, er wirbeln fröhliche girlanden durch die gegend, auf einmal klingt da die urmutter aller schillernden seifenblasen an: eine glasharmonika – und das cello balanciert und balanciert um sein leben und hält diesen ganzen laden zusammen.
emily dickinson findet so ein schönes bild am ende ihres gedichts: die ewigkeit, die uns als sturzbach die füße umspült und alles ersäuft, während wir auf teufel komm raus mit beiden armen dagegen anrudern, unseren ganzen laden da nicht hineinkippeln zu lassen. musik als zeitkunst ist ja doch auch immer der wiederholte versuch, sich gegen genau diese zeit zu stemmen: einen moment schneller und emsiger zu sein als sie – farben, blumen, gestalten, seifenblasen, gefühle, bilder in die luft zu werfen und entstehen zu lassen, ehe sie wieder alles verwischt und verblassen läßt. ich habe ja den verdacht, daß jeder künstler kind seiner zeit ist – ob er nun will oder nicht. und ich glaube mittlerweile auch, daß in jedes kunstwerk diese zeit spuren gräbt – ob der künstler nun will oder nicht. lassen wir uns doch mal überraschen, wie weit die zarte cellostimme kommt.
Philipp Maintz