Der in Berlin lebende Komponist Philipp Maintz hat eine große Leidenschaft für Lyrik und feine Antennen für deren Formen, Metaphern und Andeutungen. Vor allem Gedichte der Moderne und der Gegenwart regen ihn immer wieder zu Musik an. Bei einer ersten Begegnung mit dem Text bringe das Gedicht etwas zum Schwingen und lasse ihn eine Musik erahnen. So hat es der Komponist in einem Interview vor der Uraufführung seiner »musik für sopran und großes orchester« tríptico vertical zu Protokoll gegeben, die 2014 in München mit der Sopranistin Marisol Montalvo und den Münchener Philharmonikern unter der Leitung von Christoph Eschenbach stattfand. Die Texte, die Philipp Maintz für dieses Werk heranzog, stammen aus dem Spätwerk Decimotercera poesía vertical (»Dreizehnte vertikale Poesie«) des argentinischen Dichters Roberto Juarroz (1925–1995). Die drei Gedichte des fünften Tríptico vertical aus Juarroz‘ Gedichtband beeindruckten Philipp Maintz sofort. Er habe darin eine latent angelegte musikalische Form erkannt, mit zwei Antithesen und einer abschließenden Synthese, die über die beiden ersten Gedichte hinausweise, äußerte er einmal.
Im Gespräch für Ultraschall Berlin sagt Philipp Maintz über seine Faszination der Lyrik von Roberto Juarroz: »Ich hab eine Vorliebe für kryptische Gedichte, die uns geheimnisvoll über den Sinn des Lebens zuraunen.« Das erste der vom Komponisten ausgewählten Gedichte aus der Feder von Roberto Juarroz beginnt mit dem Vers »Keine weiteren Ziele haben …«. Darin finden sich poetische Reflektionen wie diese: »Allein die hoffnungslosen Wege / und die verkehrten Fahrten / fügen die unmöglichen Träume zusammen«. Das mittlere Gedicht »Über die blinden Wasser springen …« endet mit den Versen »… und wir müssen über den Abgrund springen / um ihn finden zu können.« Das abschließende Gedicht »Das Nichts ändert sich …« eröffnet ungeahnte Perspektiven, etwa in den folgenden Versen: »Vielleicht sind die Variationen des Nichts / die geheimen Grundsteine / dieser neuen Sicht«.
Zu seiner Komposition sagt Philipp Maintz im Gespräch für Ultraschall Berlin: »Gedichte zu vertonen ist, als wolle man sie gut ausleuchten, das, was ihren Reiz ausmacht, deutlich zur Geltung bringen —und vielleicht auch ein Stück weit diesem nacheifern.« Die formale Idee eines Triptychons hat er in seiner Komposition beibehalten. Zwei klanglich dichte, komplexe Außenteile beginnen jeweils mit der Vokalstimme, die mit ihrem Gesang den Orchestersatz allmählich zu beleben scheint. Beide umschließen einen kürzeren, verhältnismäßig transparenten, im Satz lockerer gefügten Mittelteil.
Eine starke Inspirationsquelle war für Philipp Maintz tríptico vertical neben den Versen von Robero Juarroz die Stimme der Sopranistin Marisol Montalvo, mit der ihn eine rund zehnjährige Zusammenarbeit verbindet und für die er bereits drei Werke geschrieben hat: 2007 océan. Musik für Sopran, großes ensemble und live-elektronik, 2010 den Liederzyklus septemberalbum und die Sopranpartie seiner Oper MALDOROR, die 2010 im Rahmen der Biennale für neues Musiktheater in München uraufgeführt wurde. »Ich kenne ihre Stimme sehr genau, weiß, welche Farben sie hervorbringen kann«, sagt Philipp Maintz über Marisol Montalvo im Interview für Ultraschall Berlin, »das gibt mir eine große Sicherheit im Schreiben, andererseits mache ich die Erfahrung, dass sich Gesangslinien für sie wie ›von selbst‹, schreiben. Aus dem Wollen, ihrer Stimme ein maßgeschneidertes Abendkleid zu erfinden, wird ein gegenseitiges Geben und Nehmen.«
Ausgehend von der Gesangstimme, die er als ersten Schritt bei der Komposition von tríptico vertical fixierte, hat er anschließend den Orchesterpart entworfen: »Mit einem Orchester kann man ganz magische Momente großer Intimität erzeugen (obwohl Marisol hier 84 Musiker begleiten) – aber auch ›das ganz große Fass‹ aufmachen. Oder auch einen musikalischen Raum ganz nah an die Solistin heranführen – oder diesen weit um sie herum öffnen. Dies sind für mich – in Bezug auf das Verhältnis des Orchesters zum Sopran – Fragen der ›Brennweite‹, damit stehen und fallen unterschiedliche Grade von Intensität«, kommentiert Philipp Maintz seine überaus emotionale, suggestive und fein differenzierte Gestaltung des Orchesterparts in tríptico vertical. Sie ist geprägt von vielfach abgestuften Farbschattierungen und reicht in den instrumentalen Kommentaren und Ausdeutungen von subtilen Gesten bis zu harschen Ausbrüchen, von geradezu elementarem Rumoren, Surren, Vibrieren aus den Tiefen des Orchesters bis zu raumgreifenden dramatischen Klangfeldern.
Philipp Maintz ist bekannt dafür, dass seine Werke auf minutiös ausgearbeiteter Strukturierung basieren. Erste Skizzen werden oft computergenerierten Rechenprozessen unterworfen, Algorithmen und Fraktale bestimmen die maßgeblichen Parameter des Satzes. Anschließend durchkreuzt der Komponist jedoch dieses Vorgehen bewusst: »Beim Überprüfen des Ergebnisses greife ich überall dort ein, wo mir etwas nicht gefällt, ich ›entregle‹ dann, streiche, verändere so, wie es mir instinktiv richtig erscheint.« So hat er sein Vorgehen vor Jahren mit Blick auf einige seiner Instrumentalkompositionen erläutert.
Der intensive künstlerische Umgang mit Lyrik hat seine Vorgehensweise als Komponist in den letzten Jahren jedoch verändert, wie er im Gespräch für Ultraschall Berlin verrät: »Ein Gedicht, einen Text zu vertonen impliziert für mich, sich dessen Dramaturgie anzuverwandeln, sich auf diese einzulassen, ist eigentlich eine Aufforderung zum Tanz«, sagt Philipp Maintz. »Die Verführung des Textes und die Phantasie des Komponisten gehen meistens andere Wege, als der Algorithmus sich das so vorgestellt hatte. Mit anderen Worten, ich komponiere heute – mit Texten ohnehin – sehr viel freier, offener und vielleicht auch aufmerksamer dafür, was mir der vertonte Text einflüstern möchte.« Womöglich ist der Komponist, der ungemein genau arbeitet, in seinem Gespür für Formen und Strukturen im Laufe der Jahre seines künstlerischen Handwerkszeugs auch einfach so sicher geworden, dass er sich diese Freiheit durchaus nehmen kann.
Eckhard Weber