Das neue Ensemblestück »c’est une volupté de plus« des Berliner Komponisten Philipp Maintz kann als weiterführende Reflexion von Aspekten seiner Kammeroper Thérèse gehört werden. Thérèse wurde 2019 bei den Salzburger Osterfestspielen in Koproduktion mit der Staatsoper Hamburg uraufgeführt. Philipp Maintz wurde 1977 in Aachen geboren, seine Ausbildung erhielt der frankophone und frankophile Komponist u.a. in Liège und am Pariser IRCAM. Die literarische Vorlage seiner Oper Thérèseist Émile Zolas Thérèse Raquin (1867), ein Blick auf „die menschliche Bestie“, wie dies Zola nannte. Der Roman erzählt von der Vollwaisen Thérèse, die früh von ihrer tyrannischen Tante in eine Zwangsehe mit deren Sohn Camille gedrängt wird. Die unglückliche Ehe mit ihrem leidenschaftslosen Cousin, einem unreifen, blutleeren Charakter, empfindet Thérèse als verhasste Falle. Als Sie heimlich mit Camilles Jugendfreund Laurent eine Affäre beginnt, beschließen beide, Camille umzubringen. Laurent ertränkt den Nichtschwimmer Camille, bleibt jedoch unbehelligt, weil der Mord als Unfall getarnt werden kann. Doch die Tat belastet das weitere Zusammenleben von Thérèse und Laurent. Albträume, Gewissensnöte, Verfolgungswahn belasten das Paar. Die ehemals leidenschaftlich Verliebten hassen und misshandeln sich, bis es zum Doppelselbstmord kommt.
„seit meiner kammeroper umkreise ich immer wieder diese figur der thérèse raquin“, hat Philipp Maintz in Anmerkungen zu seinem neuen Ensemblewerk »c’est une volupté de plus« für Ultraschall Berlin erklärt. Bereits während der Arbeit an Thérèseentstand sein Ensemblestück zornerfüllte nächte (2017) mit Bezug auf die Oper, 2018 im Rahmen von Ultraschall Berlin ebenfalls von LUX:NM uraufgeführt. Philipp Maintz bezeichnet dieses Stück als Psychogramm. Hinsichtlich seines neuen Ensemblewerks »c’est une volupté de plus« betont er: „mich hat hier aber noch viel mehr auch die übersetzung dieses psychogrammgedankens in eine musikalische form gereizt. also die musik wieder von der figur lösen und sich selbst entwickeln zu lassen — wobei das psychogrammartige nicht wohlsortiert vonstatten geht, sondern ‚die dinge‘ (dahinter lauert ja doch auch immer ein bißchen das theatralische der oper) disparat aneinandersitzen, aufeinandertreffen, neue zusammenhänge und perspektiven schaffen und auch eine eigendynamik entwickelt haben, der ich freien lauf gelassen habe.“
Der Werktitel »c’est une volupté de plus« ist ein Zitat aus der von Émile Zola 1873 erstellten Dramatisierung seines Romans. Darin vertraut Thérèse Laurent an, dass gerade das Verschwörerische ihrer unentdeckten Liebe ihr une volupté de plus, „eine zusätzliche Lust“ bereite: wenn Laurent zu ihrem ehelichen Heim komme, um Domino zu spielen und sie sich unter dem Schein, lediglich Bekannte zu sein, unverfänglich vor den anderen miteinander austauschen und sie sich insgeheim an die Freuden mit ihm erinnere. Philipp Maintz kommentiert diesen Bezug mit den Worten „thérèse feixt! — sie sieht licht am ende des tunnels! wer den roman zuende liest, der weiß, dass das ein licht ist, das den weg ins verderben leuchtet.“
Praktisch im Verborgenen beginnt auch die Musik von »c’est une volupté de plus«, jenseits des vollen Klangs, im extrem leisen Bereich, verschleiert, schemenhaft. Vor allem das Akkordeon prägt dieses Geschehen. Dabei wird häufig bei gedrücktem Luftknopf gespielt. Dieser Knopf dient einer Regulierung des Luftvolumens im Balg des Instruments, damit dieser ohne Luftwiderstand schnell geöffnet und geschlossen werden kann. Das Spiel mit gehaltenem Luftknopf bringt vor allem Luftgeräusche hervor: „es gibt wenig ‚vergeblicheres‘ als akkordeon mit gedrücktem luftknopf zu spielen. es entweicht so viel energie ungenutzt, die zur tonerzeugung fehlt. hierbei kann es sich aber auch um ein atemgeräusch des instrumentes handeln (das seinen widerhall im restlichen ensemble findet) – auch hier im detail: hier sitzen zusammenhang und ambivalenz wieder ganz nah nebeneinander …“, so Philipp Maintz. Silke Lange, die Akkordeonistin von LUX:NM, hat schon 2019 bei der Uraufführungsproduktion von Thérèse Raquin mitgewirkt, und auch dort hatte das Akkordeon eine herausragende Rolle.
In »c’est une volupté de plus« reagieren die übrigen Instrumente auf die „atemenden“ Impulse des Akkordeons: die Trommeln streichen teils lediglich über das Fell, im Cello erklingen sachte körperlose, pfeifende Flageoletts und schattenhafte Klänge, das Klavier erzeugt durch Manipulation der Saiten ebenfalls obertönige, flageolettartige Klänge. Die naturgemäß klangstarken Bläser sind zunächst überhaupt nicht beteiligt. Der erste Einsatz der Posaune ist schließlich ebenfalls ein dunkles Luftgeräusch, später tritt die Trompete in ähnlicher Weise dazu. Allmählich nimmt der Ensembleklang eine stärkere Körperlichkeit an, doch gerade wenn auch das Saxophon eingestiegen ist, löst sich dieses Zusammenspiel wieder auf. Es folgen eweitere Anläufe, erneut ausgehend von Luftgeräuschen des Akkordeons, etwa in neuen Gestalten des Cello und Akkordeons. Diese anwachsenden Entwicklungen und ihre Zerfaserung sind charakteristisch für den Verlauf von »c’est une volupté de plus«.
Dies gilt auch für jene Passagen, die sich direkt auf Stellen der Oper beziehen, von Philipp Maintz als „Fenster bezeichnet: „die ‚verheddern‘ sich aber in dem disparaten und assoziativen der formanlage und zerlaufen dann in der folge. bei dem ersten dieser fenster ist es z.b. so, dass es über eine ganze reihe unregelmäßiger wiederholungen verbleicht und zerfällt“, erläutert der Komponist. Ein erstes dieser „Fenster“ öffnet sich beim Dialog zwischen kreisenden, tendenziell kantablen Läufen und Wellenbewegungen des Saxophons und entsprechenden Akkordeoneinsätzen. Diese Stelle bezieht sich auf eine Szene in der Oper, in der Thérèse Laurent ihre Liebe bekennt. Die Trompete schaltet sich bald ebenfalls in dieses Geschehen, während die Einsätze kürzer und atemloser werden. Weitere solcher Vorstöße kantabler und durchaus auch virtuoser Linienführung im Ensemble verebben ebenfalls. Stattdessen folgen zwischendurch ostinate Schläge und Tonrepetitionen, etwa in den Trommeln und im Cello. Dieses Pulsieren nimmt im Verlauf des Stücks immer mehr Raum ein, wie ein sich verbreiternder Strudel des Verderbens.
Ihn habe bei der Arbeit an diesem Ensembewerk interessiert, „wie zusammenhänge zwischen nicht-zusammenhängendem entstehen und neue bedeutungen schaffen“, bemerkt Philipp Maintz, „natürlich berührt das auch diese eingesperrte romanfigur, ihre suche, ihr hoffen auf einen ausweg und die dazugehörige vergeblichkeit, die zu verzweiflung wird. ich finde ja, das ist (gerade bei einem opernstoff) der punkt, bis zu dem sich ein autor vorwagen darf, um eine deutung ganz leise anzutippen – sich aber danach zurückhalten sollte, weil er sonst eigentlich mehr türen zuschlägt als aufmacht jeder hört ja doch (hoffentlich) ‚seine‘ eigene musik in jeglichem stück.“
Eckhard Weber