Sein Klavierkonzert The Circle and the Child hat Philip Lasser für die Pianistin Simone Dinnerstein geschrieben. Sie brachte es 2013 mit dem Atlanta Symphony Orchestra unter der Leitung von Miguel Harth-Bedoya zur Uraufführung.
Philip Lasser ist fasziniert von der Musik des Leipziger Thomaskantors Johann Sebastian Bach und darin geistesverwandt mit Simone Dinnerstein, die sich einen Namen als profilierte Bach-Interpretin gemacht hat. Für sein Klavierkonzert ließ sich Lasser vom Choral »Ihr Gestirn‘, ihr hohen Lüfte« (BWV 476) inspirieren, ein protestantisches Kirchenlied, das Bach bearbeitet hat und das im Musikalischen Gesang-Buch zu finden ist, herausgegeben 1736 in Leipzig vom Zeitzer Hofkantor Georg Christian Schemelli. Philip Lasser hat für The Circle and the Child aus diesem Choral eine aufsteigende fünftönige Skala herausgefiltert. Mit diesem Motiv beginnt gleich im ersten Takt der Klavierpart, er stellt den Ausgangspunkt des Konzerts dar, das sich wie eine groß angelegte Klavier-Orchester-Fantasie aus diesem melodischen Gedanken entwickelt. Diese musikalische Ausgangsidee zieht sich in vielfacher Veränderung – melodisch, harmonisch, in schillernden Orchesterfarben und verschiedenen Stimmungen – durch das gesamte dreisätzige Konzert. »Wie ein erlesener Duft strömt sein Choral aus jeder Passage meines Konzerts«, hat Philip Lasser über seine Verarbeitung der Vorlage gesagt.
Das Bach abgelauschte Motiv durchläuft verträumte Passagen und nachdenkliche Momente. Lasser lässt die Gestalten dramatisch aufgewühlt erscheinen, verspielt, geheimnisvoll, melancholisch, intim, freudig und ausgelassen. Im ersten Satz denkt der Komponist die irisierenden Klangflächen eines Claude Debussy im individuellen Zugriff weiter. Wie eine wehmütige Erinnerung wirkt der zweite Satz, und im dritten Satz scheint Lasser eine launige Hommage an die bitonalen Experimente eines Charles Ives im Sinn zu haben. Die französische und die amerikanische Musiktradition sind auch die biografischen Referenzpunkte von Philip Lasser: Geboren 1963 in New York als Sohn einer französischen Mutter und eines amerikanischen Vaters, ging er mit 16 Jahren an die École d’art de Fontainebleau, anschließend studierte er an der Harvard University, um danach einige Jahre in Paris zu leben. Seit 1994 lehrt er an der New Yorker Juillard School.
Soloklavier und Orchester treten in Philip Lassers Konzert nicht als Konkurrenten gegeneinander an, sondern gehen als gleichberechtigte Partner einem gemeinsamen Weg: »Orchester und Klavier haben dieselbe Rolle, beide reisen zusammen durch dieselbe Klangwelt. Ich habe den Eindruck, dass das Orchester dem Klavier als Hologramm dient. Wie in einem Hologramm erzeugt das Orchester eine dreidimensionale Welt um das Klavier herum, es reflektiert die Stimmen des Klaviers, die inneren Linien, und verleiht ihnen Farbe«, beschreibt dies der Komponist. Zum Titel The Circle and the Child hat Philip Lasser einmal erklärt: »Der Kreis ist eine treffende Metapher für das Leben. Für mich reist die Musik durch die Erinnerung auf einer Kreisbahn der Zeit, vom Beginn zurück zum Beginn. Mein Konzert wandelt entlang dieses Pfads und greift dabei Erinnerungen auf, die durch das mit ihnen verbundene Lebensgefühl eine jeweils eigene Tönung erhalten. Daher das Bild des Kindes, das die sich weiderholenden Lebenszyklen repräsentiert, den endlosen Kreislauf von Leben zu Leben.«
Eckhard Weber