Das Luther-Jahr 2017 wurde auch in Slowenien mit zahlreichen Projekten begangen. Es gab mehrere Kooperationen slowenischer und deutscher Kulturinstitutionen. Das Goethe-Institut in Ljubljana bündelte seine Projekte unter dem Titel Luther/Trubar – Reformer und Rebellen. Dabei wurde Martin Luther der slowenische Bibelübersetzer und Reformer Primoz Trubar gegenübergestellt: So wie Luther für das Deutsche als Schriftsprache prägend war, hat auch Trubar mit seiner Bibelübersetzung einen entscheidenden Einfluss auf die slowenische Sprache ausgeübt. Den nicht zu unterschätzenden Aspekt des Linguistischen bei den Reformern hat die interaktive Ausstellung Aufs Maul geschaut. Mit Luther in die Welt der Wörter in der Burg von Ljubljana aufgegriffen. Ende Mai 2017 gab das Ensemble Experimental dort an drei Tagen Wandelkonzerte mit einem Programm, das auf den spezifischen Rahmen abgestimmt war: Slowenische und deutsche Komponist*innen haben sich in neuen Werken mit den Luther-Worten der Ausstellung auseinandergesetzt, darunter Detlef Heusinger mit 4 Crossroads für E-Gitarre, Violoncello, Klavier/Synthesizer, Schlagzeug und Elektronik und Vito Žuraj mit Time-out für Gitarre und Live-Elektronik.
Auch die Komponistin Petra Strahovnic hat bei diesem Projekt mitgewirkt. Sie schrieb das Stück Appulse für Klavier und Elektronik und wählte als Luther-Wort eine Stelle aus dem Alten Testament, aus dem Buch Kohelet 3,1: »Ein jegliches hat seine Zeit, und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde.« Ausgehend von diesem Bibelvers nahm Petra Strahovnic für ihre Komposition die Position der Antithese ein. Sie zog die Kreiszahl π für Unendlichkeit heran. »Weil Zeit unterschiedlich wahrgenommen wird«, erläutert die Komponistin im Interview für Ultraschall Berlin. Gerade in der Zeitkunst Musik werde dies deutlich: »Selbst Wiederholungen des Gleichen verändern sich in der Wahrnehmung während des zeitlichen Verlaufs. Weil die Wahrnehmung auf unterschiedliche Aspekte fokussiert wird, auf harmonische Eigenschaften oder auf den Rhythmus zum Beispiel.« Zeit kann gedehnt, gerafft oder stehend wahrgenommen werden. Deshalb hat sich Petra Strahovnic in Appulse auf die Untersuchung der Wahrnehmung von Musik als Zeitkunst konzentriert. Mit einem augewählten Abschnitt aus der unendlichen Ziffernfolge von π (3,1415926…) hat sie etwa rhythmische Patterns determiniert, Akkordintervalle, rhythmische Akzente und die Anzahl der Repetitionen der Akkorde. »Das Faszinierende an der Zahl π ist, dass es keine Wiederholungen in der Ziffernfolge gibt«, erklärt Petra Strahovnic. Diese Gestaltungsweise bestimmt die erste Schicht von Appulse und bringt im Klangresultat eine rhythmisch treibende Folge dichter Akkorde aus dem tiefen Klavierregister in einem bewusst entfernt klingenden Gepräge, wie von einem diffusen Untergrund aufsteigend.
Darüber, als zweite Schicht, im höheren Register der rechten Hand, treten gegenrhythmische Einsätze von metallischem, obertonreichen Charakter auf. Dieser Rhythmus folgt der Übersetzung eines Briefs von Primoz Turbar – im Rhythmus von Morsezeichen. Den Brief, den Petra Strahovnic dafür herangezogen hat, verfasste Primoz Trubar am 1. August 1565: Er beklagt darin die Rückständigkeit seiner Gesellschaft und dass Künste und geistliche Unterweisung nahezu ignoriert und zu wenig gepflegt werden. »Dies ist genau das, was auch heute passiert. Kultur hat leider nicht die Priorität, die sie verdient«, sagt Petra Strahovnic. Trubar forderte seinerzeit, dass sich die Intellektuellen und Kunstschaffenden zusammenschließen, um die Situation der Welt zu verbessern. Diese Solidarität und Initiative wäre heute nötig, findet die Komponistin.
Die Klavierklänge der beiden erwähnten Schichten von Appulse stammen von präparierten Saiten. Petra Strahovnic ist ausgebildete Pianistin. Aber sie habe womöglich zuviel gespielt und sei des herkömmlichen Klavierklangs überdrüssig – eine Haltung, die oft bei zeitgenössischen Komponist*innen zu beobachten ist, die vom Klavier kommen. Deswegen sucht Petra Strahovnic einen anderen Klavierklang als den gewohnten, um ihn neuartig zu entdecken. Für Appulse wurden die Saiten mit unterschiedlich großen Magneten und Styroporschalen präpariert. Die dadurch erzeugten Klänge sind teils obertonreich, sogar mit Wirkungen von Multiphonics, teils erinnern sie an Schlaginstrumente.
Hinzu tritt als dritte Schicht eine differenzierte Verbindung von subtilem, mitunter eher atmosphärisch als deutlich klanglich wirkendem Zuspiel und Live-Elektronik. Die verschiedenen Schichten des Stücks erfahren im Verlauf allmähliche Veränderungen im Verhältnis zueinander. So nimmt die zunächst als entfernt oder untergründig wahrgenommene ostinate Rhythmusschicht die Oberhand und die vormals darüber liegende Schicht mit den Morserhythmen passt sich in diese erste Schicht ein. Dies geschieht vor allem auch durch Veränderung der Dichtegrade.
Und damit wären wir beim Titel des Stücks, Appulse. Der englische Begriff stammt aus der Astronomie und bezeichnet eine scheinbare Begegnung zweier Himmelskörper, wenn sie auf ihren Laufbahnen aus der Perspektive des Beobachtungspunkts nah beieinander zu sehen sind. »Enge Konjunktion« wäre der deutsche Begriff für dieses Phänomen. Im Dezember 2020 brachte solch eine Stellung auf den Umlaufbahnen die Planeten Jupiter und Saturn von der Erde betrachtet optisch nah zueinander. Auch der biblische »Stern von Bethlehem« soll auf Ähnliches zurückzuführen sein. Petra Strahovnic sieht in solch einem optischen Aufeinandertreffen zweiter Himmelskörper auch eine Metapher für das Zusammentreffen unterschiedlicher Systeme und Perspektiven. Für sie das wesentliche Moment in Appulse. Für ihr Publikum ein Hörerlebnis: Perspektivwechsel mit Sogkraft.
© Eckhard Weber 2021