Streichquartette seien für ihn »wie Abschnitte eines Tagebuches, Notate vorläufigen Befindens, Reaktionen meiner ›Innenwelt‹ auf Ereignisse, Zeichen und Erfahrungen«, hat der Komponist Peter Ruzicka einmal gesagt. Erinnerung, Trauer, Abschied behandelt sein 1992 entstandenes Streichquartett Nr. 3 mit dem Titel »…über ein Verschwinden«. Klanglich und gestisch ist es ein Werk der extremen Gegensätze. Die fragilen, sich an der Grenze zur Stille bewegende Außenteile umrahmen einen Mittelteil, der heftige Ausbrüche bereithält.
Das Werk beginnt mit aus einem beklommenen Schweigen abgerungenen fahlen, körperlos wirkenden Klängen, anfangs zitternd und wie leise wimmernd. Die Strukturen nehmen zaghaft Gestalt an, kurze Seufzerfiguren sind auszumachen, aber auch der schwache Nachhall eines Chorals oder eines Trauermarsches scheint auf, durchschnitten von obsessiv angehaltenen Liegetönen und Tonrepetitionen in hohen Lagen. Sie kündigen bereits den ruhelosen, von harten Brüchen durchzogenen Mittelteil an: Die erstarrte, still leidende Klage schlägt hier um in stechende Pizzicati, abgerissene Melodiefetzen, nervöse und aggressive Klanggesten, Akkordschläge und instrumentale Schreie. Mitten in dieser heftigen Aufwallung gibt es ein plötzliches Innehalten, gefolgt von leisem Pulsieren, man meint die schwachen Herztöne aus einem Kardiografen zu hören, die schließlich abbrechen. Nach einer weiteren Verdichtung der vormaligen nervösen Gesten, die in harte Schläge gefrieren, klingt kurz ein Zitat aus dem Adagio-Finale der neunten Symphonie D-Dur von Gustav Mahler an, ein aufsteigendes Melodiefragment. Mahlers Symphonik ist neben der Musik von Anton Webern und der Dichtung von Paul Celan einer der wichtigen Referenzpunkte im Werk von Peter Ruzicka, zieht sich subkutan nahezu durch sein gesamtes Schaffen. Mehrere Vorstöße mit kurzen Zitaten aus diesem Mahler-Adagio werden gewagt, die alle von der zerbrechlichen, stimmlosen, an der Grenze zum Verstummen sich bewegenden Musik aufgesogen werden. Schließlich setzt sich jedoch sachte ein Zitat aus dem Adagio von Mahlers Neunter wie in Zeitlupe durch, bevor die Musik endgültig buchstäblich verschwindet.
Wie Peter Ruzickas Streichquartett »…über ein Verschwinden« ist auch das Adagio von Mahlers letzter, in dessen Todesjahr 1910 vollendeter Symphonie eine Musik, die Abschied und Trauer behandelt. Mahler zitiert darin beispielsweise eine Stelle aus dem vierten seiner Kindertotenlieder (1904), aus Oft denk‘ ich, sie sind nur ausgegangen!, wo versucht wird, den schmerzhaften Verlust und die Ohnmacht angesichts der Endgültigkeit des Todes eines geliebten Menschen mit dem Trost auf ein Jenseits zu mildern: » Sie sind uns nur vorausgegangen / Und werden nicht wieder nach Hause gelangen! / Wir holen sie ein auf jenen Höh’n / Im Sonnenschein! / Der Tag ist schön auf jenen Höh’n«, heißt es darin. Gustav Mahler hatte 1907, wenige Jahre nach der Komposition seiner Kindertotenlieder auf Texte von Friedrich Rückert, selbst den Tod seiner erstgeborenen Tochter Maria Anna mit noch nicht einmal fünf Jahren an Scharlachdiphterie zu beklagen. Peter Ruzickas »…über ein Verschwinden« wiederum ist die Klage eines Sohns, der seine Mutter verloren hat. Er sprach von einer »Todeserfahrung, von der jenseits der beschreibenden Worte nur die Musik sprechen kann«. Im Gedenken an seine Mutter hat Peter Ruzicka dieses Streichquartett komponiert.
Eckhard Weber